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Heidelberger Forscher

Erst Corona, dann der Ukraine-Krieg: Bedrohungen und Ängste treffen die ältere Generation besonders hart

Die Bilder vom Krieg in der Ukraine belasten alle Menschen. Vor allem aber diejenigen, die schon einen Krieg erlebt haben. Was passiert, wenn alles wieder hochkommt?

Ein Mann sitzt auf dem Sofa und schaut im Fernsehen die Tagesschau. (zu dpa «Von Kriegsangst überwältigt: Warum das passiert und was man tun kann») +++ dpa-Bildfunk +++
Die Fotos und Filme vom Krieg in der Ukraine belasten alle Menschen. Vor allem aber diejenigen, die schon einen Krieg erlebt haben. Foto: Foto: Lino Mirgeler picture alliance/dpa

Seit Beginn des Kriegs in der Ukraine ist der alte Mann von Zimmer 206 sehr unruhig. Vor allem nachts. „Manchmal müssen die Kolleginnen und Kollegen im Nachtdienst fast stündlich nach ihm schauen“, sagt die Pflegedienstleiterin des Heims, in dem der 90-Jährige seit gut zwei Jahren lebt.

Auch seine Tochter, die regelmäßig zu Besuch kommt, hat die Veränderung bemerkt. „Mein Vater will kaum noch aufstehen und erzählt plötzlich Geschichten aus seiner Kindheit, die ich noch gar nicht kannte“, sagt sie.

Die Bilder vom Krieg in der Ukraine, von zerstörten Häusern, rollenden Panzern und Menschen auf der Flucht verstören Menschen jeden Alters. Aber für die Männer und Frauen, die schon einmal einen Krieg erlebt haben, wirken sie wie ein Déjà-Vu. Erinnerungen an lange verloren geglaubte Gefühle kehren zurück.

„Die Folgen sind von Mensch zu Mensch ganz unterschiedlich“, sagt der Heidelberger Alternsforscher Hans-Werner Wahl. „Manche sind völlig unbekümmert, andere können an nichts anderes mehr denken.“ Psychologen wissen, dass sogenannte Retraumatisierungen, bei denen alte Traumata wieder aktiviert werden, schlimme Folgen haben können. Die Bandbreite reicht von Persönlichkeitsveränderungen bis hin zu Depressionen. Aber auch Phobien, Panikattacken oder körperliche Beschwerden wie Schwindel oder Herzrasen sind möglich.

Corona und der Krieg: Zwei Bedrohungen in kurzer Zeit

Hans-Werner Wahl Mitglied im Direktorium des Netzwerks AlternsfoRschung
Hans-Werner Wahl Mitglied im Direktorium des Netzwerks Alternsforschung. Foto: Uni Heidelberg

„Über das Phänomen der Kriegsangst bei Älteren und deren Auswirkungen gibt es leider noch keine gesicherten wissenschaftlichen Erkenntnisse“, bedauert Wahl. Ohnehin sei die jetzige Situation historisch wohl einzigartig. Die neue Sorge vor einem sich ausweitenden Krieg paare sich nämlich zusätzlich mit den Ängsten, die die Pandemie schon seit zwei Jahren mit sich bringt. „Wir haben es mit zwei unterschiedlichen Bedrohungen zu tun, die sich miteinander verschränken und die ältere Menschen ganz besonders betreffen.“

Erst die Übersterblichkeit durch Corona, jetzt die Angst vor einem dritten Weltkrieg – dies seien Bedrohungen, die die Jüngeren nicht im gleichen Maß betreffen und die sie auch nicht kennen. Die Älteren sorgen sich nur um ihre eigene Zukunft, sondern auch um die ihrer Kinder und Enkelkinder. Auch fatalistische Gedanken würden verstärkt. Letzteres hält Wahl für besonders problematisch. „Dieser Gedanke von ‘man kann ja eh nichts machen’ wirkt sich sehr ungut auf den Umgang mit dem eigenen Älterwerden aus“, sagt er.

Seit Jahren engagiert sich der Direktor des Netzwerks Alternsforschung an der Universität Heidelberg für einen neuen Blick auf das Alter und einen anderen Umgang mit dem Thema Altern. Viel dreht sich dabei um den Begriff der „Agency“. Das Wort lässt sich vielleicht am ehesten mit Handlungsfähigkeit, Handlungsvermögen oder auch Handlungsmacht übersetzen. Gemeint ist die Fähigkeit eines Menschen, innerhalb einer gegeben Situation nicht nur determiniert zu reagieren, sondern mit einer gewissen Offenheit auf sich selbst und andere Einfluss zu nehmen.

Die Überzeugung, dass auch ältere Menschen noch viel machen und lernen können, dass sie noch aktiv sind und Kontrolle über ihr eigenes Leben haben, sei gerade dabei, sich zu etablieren. Dieses „zarte Pflänzchen“ sieht Hans-Werner Wahl ganz besonders bedroht. „Es besteht das Risiko, dass durch die Belastungen der jetzigen Situation das alles wieder zurückgeworfen wird.“

Um diesen Rückfall in Zeiten zu vermeiden, in denen man das Wort Alter mit Demenz und Multimorbidität gleichsetzte, hat Altersforscher Wahl einige Tipps parat: „Meine Empfehlung lautet: Bleiben wir dran! Machen wir Angebote, mit den Erinnerungen aktiv umzugehen.“ Alles aufschreiben, offen über alles reden und keine Tabus zu haben – das helfe allen. „Es wäre falsch zu denken, dass wir alles wegstecken können.“

Nach Angriff Russlands war Redebedarf in Bruchsaler Heim groß

In vielen Pflegeheimen ist das schon fester Bestandteil der täglichen Arbeit. „Am Tag des russischen Einmarschs in der Ukraine waren alle in heller Aufruhr“, sagt Elvira Hüttner. Die Sozialpädagogin im Evangelischen Altenzentrum Bruchsal gestaltet mit ihrem Team das Tagesgeschehen in der Einrichtung. Fester Bestandteil ist die morgendliche Lektüre und das Besprechen aktueller Ereignisse, die sich überall auf der Welt, vor allem aber hier in der Region, ereignet haben.

„In den Tagen nach dem Einmarsch war der Redebedarf sehr hoch“, erinnert sich Elvira Hüttner. Sie habe daraufhin entschieden, den Stundenplan der Einrichtung anzupassen. „Statt wie sonst Gedächtnistraining und Sitzgymnastik anzubieten, haben wir Raum zum Reden gegeben und Gesprächsangebote gemacht.“

Von den Bewohnerinnen und Bewohnern sei dieses Angebot gern und gut angenommen worden. Dieser Austausch alter Erinnerungen habe einen sehr positiven Effekt gehabt. „Manche haben von ihren Erfahrungen auf der eigenen Flucht berichtet, andere haben erzählt, wie es war, als die Russen einmarschiert sind und alle haben gemerkt, dass sie ganz Ähnliches erlebt haben. Getreu dem Motto ‘geteiltes Leid ist halbes Leid’ hat das allen gut getan“, sagt die Sozialpädagogin.

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