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Unwirksame Medikamente

Zu häufiger Einsatz von Antibiotika: Wenn die Wunderwaffe stumpf wird

Verordnungen in Baden-Württemberg steigen alarmierend an: Eine neue AOK-Analyse offenbart einen besorgniserregenden Trend nach der Pandemie.

Eine Apothekerin öffnet ein Schubfach mit Antibiotikasäften für Kinder.
In Deutschland werden zu oft Antibiotika verschrieben, vor allem für Kleinkinder. Das birgt die Gefahr von Resistenzen. Foto: Jan Woitas /dpa

Der Einsatz von Antibiotika in Deutschland ist im Jahr 2022 stark angestiegen. Auch in Baden-Württemberg wurden fast ein Viertel mehr dieser Arzneimittel verschrieben, zeigt eine von der AOK am Donnerstag veröffentlichte Analyse.

Sie zeigt einen negativen Trend nach Ende der Corona-Pandemie, der in Zukunft die Bekämpfung von Infektionskrankheiten erschweren könnte. Denn mit einem intensiveren Gebrauch von Antibiotika nimmt generell die Wirksamkeit der oft lebensrettenden Stoffe ab.

Neuer Trend seit der Pandemie

Knapp 3,6 Millionen Mal wurden Antibiotika 2022 im Südwesten verordnet. Ein Jahr zuvor waren es noch 2,8 Millionen Verordnungen gewesen, zeigen die AOK-Statistiken.

Demnach gab es seit 2013 einen abnehmenden Trend in Baden-Württemberg. In der Corona-Zeit hatte der Einsatz von Antibiotika einen Tiefpunkt erreicht. Nun steigen die Zahlen wieder deutlich, sie liegen 13 Prozent unter dem Wert von 2019.

Die Entdeckung des ersten Antibiotikums Penicillin durch den Briten Alexander Fleming vor fast 100 Jahren hat die Medizin revolutioniert. Seitdem werden diese Medikamente erfolgreich zur Behandlung gefährlicher Infektionen verwendet, zum Beispiel bei Lungenentzündungen oder einer Sepsis. Antibiotika wirken nur gegen bakterielle Infektionen und nicht gegen Viren.

Es gibt mehr als 15 verschiedene Klassen von Antibiotika, die sich in ihrer Struktur und Wirksamkeit gegen verschiedene Bakterien unterscheiden. Zwar werden viele von ihnen durch die Medikamente abgetötet, doch einige Bakterien überleben und werden widerstandsfähig.

Man spricht dann von einer Resistenz. Sie führt dazu, dass die medizinische Wunderwaffe ihre Fähigkeit verliert, Krankheitserreger wie Streptokokken zu neutralisieren oder deren Wachstum zu hemmen.

Besonders gefährlich kann es werden, wenn Erreger multiresistent werden, sich also gleich gegen eine Vielzahl von Antibiotika wehren können. Dann können Infektionen nur schwer oder gar nicht behandelt werden. In Deutschland sterben deswegen nach Angaben des Robert-Koch-Instituts (RKI) jährlich etwa 2.500 Menschen. Weltweit werden etwa 1,3 Millionen Todesfälle auf Resistenzen zurückgeführt, in der EU sind es rund 30.000. Ende 2022 nannte RKI-Chef Lothar Wieler die schwindende Wirksamkeit von Antibiotika eine „schleichende Pandemie“.

Letzte Option bei Therapien

Besonders bedenklich sieht es laut den neuen AOK-Statistiken bei der Verwendung der sogenannten Reserveantibiotika aus. Diese Medikamente bieten bei Erkrankungen mit multiresistenten Erregern oft die letzte Therapieoption, weil sie selbst dann wirken, wenn andere Antibiotika versagen. Deswegen gelten für ihren Einsatz strenge Leitlinien.

Die Zahlen der vergangenen zehn Jahre zeigen, dass der Anteil der Reserveantibiotika in Baden-Württemberg bis zum Beginn der Pandemie von 62 auf 46 Prozent ständig abgenommen hat. Seit 2020 hat er sich jedoch auf diesem Niveau stabilisiert. Der Landeswert im Jahr 2022 lag mit 45 Prozent über dem Bundesdurchschnitt (42 Prozent).

Mehr Zurückhaltung bei Ärzten in Hamburg

Bundesweit ist die Entwicklung ähnlich. Es gibt aber regionale Unterschiede: So war der Verordnungsanteil der Reserveantibiotika in Hamburg mit 118 Verordnungen je 1.000 gesetzlich Krankenversicherte am niedrigsten, während der Anteil in Hessen mit 227 Verordnungen je 1.000 GKV-Versicherte fast doppelt so hoch war. Baden-Württemberg liegt mit 167 Verordnungen im Mittelfeld.

Eine Untersuchung des Bremer Leibniz-Instituts für Präventionsforschung und Epidemiologie (BIPS) zeigte vor zwei Wochen, dass bei Kleinkindern in Dänemark als erstes Antibiotikum nur in sechs Prozent der Fälle ein Breitbandantibiotikum eingesetzt wird. In Deutschland greifen Mediziner bei kranken Kleinkindern dagegen in rund 40 Prozent dieser Fälle zu Reserveantibiotika. 

Die einstigen Wunderwaffen gegen Infektionskrankheiten werden stumpfer.
Helmut Schröder
Geschäftsführer des Wissenschaftlichen Instituts der AOK

Es gibt immer noch zu viele Verordnungen, kritisierte Helmut Schröder, Geschäftsführer des Wissenschaftlichen Instituts der AOK. „Die einstigen Wunderwaffen gegen Infektionskrankheiten werden durch ihren starken Einsatz sowohl in der Humanmedizin als auch in der Tierhaltung zunehmend stumpfer.“ 

Die AOK regt die Erforschung neuer Reserveantibiotika an, um Engpässe zu vermeiden. Nach ihren Angaben waren in den vergangenen zehn Jahren lediglich neun von 362 neu auf dem Markt eingeführten Wirkstoffen Antibiotika. 2022 entfielen von den knapp 2.500 verschiedenen verordneten Wirkstoffen und -kombinationen nur 57 auf Reserveantibiotika.

Für Pharmaunternehmen ist die Entwicklung neuer Antibiotika teuer und die Gewinnaussichten sind gering, weswegen fast alle großen Konzerne die Produktion eingestellt haben. Versuche der EU, sie anzukurbeln, haben bislang nicht gefruchtet.

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