Wenn man einer Jakutin sagt, sie sei so schön wie Eis, dann taut sie richtig auf. Die etwa eine Million frostresistenter Menschen, die in Russlands Osten auf einer Fläche so groß wie Westeuropa leben, sind an sieben Monaten im Jahr an den Alltag in der Kühltruhe gewohnt. Sie tragen bei Minus 50 Grad Rentierfellstiefel mit Glasperlen, die sie auch im Büro anbehalten. Sie essen gerne gefrorenen, rohen und in dünne Scheiben geschnittene Fisch mit Pfeffersauce.
Die große sibirische Schmelze macht den Forschern Angst
Sie trinken Wasser aus geschmolzenen Eisblöcken, die sie zuvor aus den erstarrten Flüssen herausgesägt und in den vier Meter tiefen Erdhöhlen in den Gärten aufbewahrt haben, die sich selbst im Sommer nie auf mehr als Minus zwei Grad erwärmen. Doch jetzt ist alles anders in der Republik Jakutien. Wo seit Urzeiten Permafrost war, lodert vielerorts der Feuer. Es ist in diesen Wochen außergewöhnlich heiß am Polarkreis, und die möglichen Folgen der sibirischen Schmelze machen vielen Wissenschaftlern Angst.
Seit Anfang 2020 ist im Norden Sibiriens eine Fläche verbrannt, die doppelt so groß ist wie Baden-Württemberg. Aktuell stehen in Jakutien Gebiete in Flammen, die der zweieinhalbfachen Fläche des Landkreises Karlsruhe entsprechen. Giftiger Rauch hüllt die Hauptstadt Jakutsk mit 270.000 Einwohnern ein. Die Behörden löschen viele Brände nicht mehr, weil die Gebiete schwer zugänglich sind und sich weiter weg von den Siedlungen befinden.
Plus 38 Grad in der kältesten Stadt der Welt
Der Extremsommer hatte sich mit einem Temperaturrekord im jakutischen Werchojansk angekündigt. Am 20. Juni wurden in der kleinen Stadt hinter dem Polarkreis, der eigentlich als die kälteste der Welt gilt, Plus 38 Grad gemessen, das waren 20 Grad mehr als normal. Nach Angaben der Weltwetteroranisation WMO lagen die Temperaturen in der russischen Arktis in den ersten sechs Monaten von 2020 fünf Grad über dem Durchschnitt der Jahre 1981 bis 2010.
Die Pole beeinflussen Wetter und Klima in niedrigeren Breitengraden, wo Hunderte Millionen Menschen leben.WMO-Generalsekretär Petteri Taalas
Die Hitze erklärt sich teilweise durch eine ungewöhnliche Nordverlagerung des Jetstreams, einer Hochgeschwindigkeits-Luftströmung in etwa zehn Kilometer Höhe. Viele Wissenschaftler in Russland wie im Westen sind sich jedoch einig, dass die Wetteranomalie in der Arktis eine Konsequenz der Klimaerwärmung ist. „Was dort geschieht, ist nicht nur für die Arktis bedeutsam”, warnte Ende Juli der WMO-Generalsekretär Petteri Taalas. „Die Pole beeinflussen Wetter und Klima in niedrigeren Breitengraden, wo Hunderte Millionen Menschen leben”.
Der Permafrost ist eine Schatztruhe mit Diamanten und Mammutknochen
Die Klimaforscher sorgen sich schon lange darüber, dass der riesige „Gefrierschrank” im Nordosten nicht mehr richtig funktioniert. Das an Diamanten und Mammutknochen reiche Jakutien besteht komplett aus Permafrostböden. Die Erde unter der Hauptstadt Jakutsk ist 240 Meter tief gefroren, im Norden der Republik misst der Bodenfrost 1.500 Meter. Der biochemische Kreislauf in dem Millionen Jahre alten Gemisch aus Eis, Stein und Salzwasser ist jedoch aus dem natürlichen Gleichgewicht geraten.
Nach Angaben der Russischen Akademie der Wissenschaften ist die Temperatur des Permafrosts seit der Jahrtausendwende im Schnitt um bis zu zwei Grad gestiegen. Die eingesetzte Schmelze aktiviere in den Böden Bakterien, die organische Schichten zersetzen und dadurch Wärme erzeugen, was die Tauprozesse noch mehr beschleunige, so die Forscher.
Gigantisches Reservoir von Treibhausgasen
Dies wiederum setze Treibhausgase wie Methan und Kohlendioxid frei, die in die Atmosphäre gelangen und zum Klimawandel stark beitragen. Nach russischen Schätzungen seien im Permafrost 1,6 Billionen Tonnen Kohlenstoff gespeichert, mehr als in den gesamten globalen Erdölvorräten.
Infolge der langfristigen Klimaerwärmung ist in diesem Sommer im Norden Russlands die Ausdehnung des Meereises auf den tiefsten Stand seit Beginn der Satellitenmessungen Ende der 1970er Jahre gesunken. In der Region sind jetzt eine Million Quadratkilometer Meer weniger von Eis bedeckt, verglichen mit dem Mittelwert der vergangenen sieben Jahre. Die Erwärmung der Arktis und die Permafrost-Schmelze haben noch mehr negative Effekte: Sie führen dazu, dass weite Gebiete Sibiriens auf Dauer unbewohnbar werden könnten und steigern das Risiko von Epidemien.
Häuser auf Stelzen galten in Sibirien jahrzehntelang als sicher
Als die Sowjetmacht in den 1940er-Jahren Sibirien besiedelte, war der Permafrost noch ein Mysterium. Die jährlichen Bodenschwankungen zerstörten die Eisenbahngleise und ließen die Häuser einstürzen. Später schlugen die Wissenschaftler vor, die Gebäude auf 8 bis 30 Meter langen Betonpfählen zu bauen. Die erhitzten Pfähle werden tief in die kalte Erde eingerammt. Etwa zwei Meter über dem Boden wird auf ihnen später das Fundament errichtet.
So sind unzählige Gebäude im Norden stabil und frostsicher - doch die arktische Tauzeit bringt diese Technologie nun an ihre Grenzen. Die Gefahr von Hauseinstürzen ist so groß, dass in Russland bereits darüber diskutiert wird, Siedlungen aufzugeben. Ein weiteres Problem ist die steigende Belastung auf die in der auftauenden Erde eingegrabenen Gas- und Ölleitungen. Nach einer Prognose könnten Russland durch die Zerstörung dieser Infrastruktur ab 2050 Schäden von 250 Milliarden Dollar entstehen.
Gefährliche Krankheiten lauern im tauenden Boden
Der warme Permafrost könnte noch eine andere böse Überraschung bergen: Viren und Mikroben, die für Menschen gefährlich sein können. 2016 gab es auf der nordrussischen Jamal-Halbinsel einen überraschenden Milzbrand-Ausbruch. Ein Zwölfjähriger starb, 70 Menschen kamen ins Krankenhaus. Auch mehr als 2.000 Rentiere sollen an der Krankheit verendet sein. Es wird vermutet, dass sich Tiere und Menschen an den vergrabenen Überresten von früheren Milzbrand-Opfern infiziert haben könnten, die das aufgetaute Eis freigegeben hat.