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Neuer Wettlauf im All

Projekt „ROSS“: Wie Russland aus der ISS ausziehen will

Russland geht einen eigenen Weg im All: In Moskau wurde jetzt ein Modell der zukünftigen Orbitalstation „ROSS“ gezeigt, in der die Weltraumpioniere in Zukunft alleine forschen wollen.

Ungewisse Zukunft: Die ISS ist das teuerste und komplizierteste Bauwerk in der Geschichte der Menschheit. Russlands Entscheidung, die Internationale Raumstation nach 2024 zu verlassen, bringt das gemeinsame Forschungsprojekt im All in große Nöte.
Ungewisse Zukunft: Die ISS ist das teuerste und komplizierteste Bauwerk in der Geschichte der Menschheit. Russlands Entscheidung, die Internationale Raumstation nach 2024 zu verlassen, bringt das gemeinsame Forschungsprojekt im All in große Nöte. Foto: dpa/NASA

Gut“: Mit einem Wort besiegelte Wladimir Putin im Juli das Ende der jahrzehntelangen Zusammenarbeit seines Landes mit dem Westen im All. Es war eines jener inszenierten und gefilmten Treffen im Kreml, die den Russen die Transparenz ihres autoritären Regimes suggerieren sollen. „Was planen wir bei der bemannten Raumfahrt?“, fragte der Präsident seinen Besucher, Juri Borissow.

„Die Entscheidung, die Internationale Raumstation ISS nach 2024 zu verlassen, ist gefallen. Dann werden wir eine russische Station aufbauen“, antwortete brav der frisch ernannte Direktor der Raumfahrtbehörde Roskosmos. „Gut“, sagte sein Chef und lächelte schief.

Es war eine Nachricht, mit der die westlichen ISS-Partner USA, Kanada, Japan und Europas Agentur Esa bereits gerechnet haben. Und trotzdem war sie schockierend, weil sie einen Tabubruch bedeutet. Bislang galt im Erdorbit eine eiserne Regel: Egal, was auf der Erde passiert und welche Konflikte zwischen den Staaten ausgetragen wurden, die Zusammenarbeit der Nationen im All musste stets unpolitisch, pragmatisch und konfliktfrei sein. Seit Russlands Überfall auf die Ukraine gilt das nun offenbar nicht mehr.

Politische „Eiszeit“ führt zu Problemen im All

Vor gar nicht so langer Zeit hat Roskosmos mit seinen westlichen Partnern noch über den gemeinsamen Weiterbetrieb der ISS in den Jahren 2024 bis 2030 verhandelt. Angesichts der Sanktionen gegen die Kriegstreiber in Moskau und der neuen politischen „Eiszeit“ in den Beziehungen mit dem Westen hält die russische Führung die langfristige Beteiligung an der Internationalen Raumstation nun für wertlos und unverantwortlich.

„Alle Hauptmodule der ISS haben ihre zulässige Betriebsdauer längst ausgeschöpft“, erklärte Juri Borissow dem Sender „Rossija 24“ drei Tage nach seiner Audienz bei Putin.

„Unsere Spezialisten warnen von einer lawinenartigen Zunahme von Technikversagen und Pannen auf der Raumstation nach 2024. Schon jetzt ist der Aufwand für die Behebung von technischen Problemen inakzeptabel hoch. Das behindert die Forschungsarbeit, wir müssen aber vor allem auch an die Sicherheit der Besatzungen denken.“

Wir müssen vor allem an die Sicherheit der Besatzungen denken.
Juri Borissow, neuer Chef von Roskosmos

Borissow macht Ernst mit seinen Abschiedsplänen. An diesem Montag hat seine Behörde auf der Moskauer Militärmesse „Armee-2022“ erstmals ein Modell des eigenen künftigen Vorpostens im All präsentiert.

Es zeigt vier kreuzförmig verbundene Module für wissenschaftliche Experimente, Energieerzeugung, Produktion verschiedener Materialien und Lebenserhaltung im All, mit drei angedockten Raumschiffen und vier großen Sonnenkollektoren.

Neue Station soll nur zeitweise bemannt fliegen

Die 122 Tonnen schwere Station „ROSS“, wie sie jetzt offiziell genannt wird, soll nach den Roskosmos-Plänen vier Kosmonauten beherbergen und mit 505 Kubikmetern mehr Raum bieten, als die heutigen russischen Teile der ISS.

Ein wichtiger Unterschied zu den bisherigen bemannten Weltraumlaboren in der Erdumlaufbahn ist, dass „RUSS“ weitgehend für den automatischen Betrieb geplant wird. Nur noch „bei Bedarf“ sollen bemannte Missionen für einen Zeitraum von einem bis zwei Monaten den Außenposten besuchen.

Zu ihren Aufgaben wird nach derzeitigen Plänen neben der Forschung auch das Betanken von Satelliten und Erdbeobachtung gehören. Einen besonderen Fokus setzt Moskau demnach auf die Überwachung von strategisch wichtigen und rohstoffreichen Polarregionen, in denen Russland expandieren will.

Spionage aus dem All

Offenbar soll „ROSS“ auch Spionage aus dem All betreiben. Zumindest ist in den offiziellen Plänen die Rede von „Beobachtung von Objekten im Interesse der Verteidigungsfähigkeit Russlands“. Borissows berüchtigter Vorgänger auf dem Roskosmos-Chefposten, Dmitrij Rogosin, hatte in den sozialen Medien früher offen damit gedroht, dass die Station in einer „feindseligen Welt“ militärische Zwecke erfüllen würde.

Ob und wie schnell Kremlchef Wladimir Putin sein neues Prestigeprojekt verwirklichen könnte, ist derzeit noch unklar. Manche Experten im Westen halten das generell für unmöglich. Sie argumentieren, dass Russlands Raumfahrt von Mikroelektronik und Computern aus Europa und den USA stark abhängig sei, die im Rahmen der seit dem Kriegsbeginn verhängten Sanktionen nicht mehr geliefert werden dürfen. Umstritten ist auch der ehrgeizige Plan, das erstes Modul von „ROSS“ binnen drei bis vier Jahren ins All zu befördern und bis zum Ende des Jahrzehnts die Station betriebsbereit zu machen.

Russlands Führung lässt ISS-Partner zappeln

Ihrerseits lässt Russlands Führung die ISS-Partner hinsichtlich der Zeitplanung zum Rückzug aus dem gemeinsamen Projekt im Unklaren. Mal heißt es in Moskau, dass er „vielleicht schon Mitte 2024 oder 2025“ beginnen werde.

Dann ist vom Jahr 2028 die Rede. Von Journalisten über seine Absichten gefragt, beschied Borissow im Juli kühl, dass er „keine Notwendigkeit“ sehe, zum jetzigen Zeitpunkt konkreter zu werden. Der 65-jährige Ex-Karriereoffizier bestreitet im Übrigen, dass Moskaus Entscheidung einen politischen Hintergrund habe.

Welche Folgen sie für den bis 2030 geplanten Betrieb der Internationalen Raumstation haben könnte, ist ebenfalls unklar. Der ehemalige Esa-Chef Jan Wörner ist davon überzeugt, dass die Abkoppelung der russischen Module das Ende der ISS einläuten würde.

Die US-Raumfahrtbehörde Nasa sieht das nicht so pessimistisch. Das Hauptproblem besteht darin, dass die russischen und die US-Module voneinander abhängen: Die ersten liefern mit ihren Triebwerken die notwendige Schubkraft, um die sinkende Umlaufbahn der Station regelmäßig anzuheben. Die zweiten liefern mit ihren Solarpaneelen die benötigte Energie für ihren Betrieb.

US-Technik soll ISS anheben können

Nach Medienberichten arbeitet die Nasa jetzt an einer Methode, um das teuerste und komplizierteste Bauwerk in der Geschichte der Menschheit auch ohne die russische Beteiligung überlebensfähig zu machen.

Im Kern geht es darum, US-Raumschiffe wie den „Cygnus“-Raumfrachter mit „zusätzlichen Funktionen“ auszustatten, damit sie künftig die knapp 500 Tonnen schwere Station von der Größe eines Fußballfelds anheben können.

Sollte dies gelingen, stehen derzeit die Chancen nicht schlecht, dass die ISS frühestens im Jahr 2031 aufgegeben und kontrolliert im Ozean versenkt werden wird. Es könnte dann dazu kommen, dass in wenigen Jahren drei Raumstationen die Erde umkreisen werden: die internationale, die russische und Chinas Station Tiangong (Himmelspalast), die bereits Ende 2022 fertig sein soll. Für Weltraumveteranen ist damit klar: Nach drei Jahrzehnten enger Kooperation hat im All ein neuer Wettlauf der Großmächte begonnen.

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