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Star auf TikTok

Lachen im Bombenkeller: Ukrainerin zeigt im Netz den Horror des Krieges

Der Krieg hat das Leben von Valeria Shashenok aus der Bahn geworfen. In den sozialen Netzwerken und einem Buch dokumentiert die geflüchtete 21-Jährige eindrucksvoll seine Schrecken.

Alleine in London: Die geflohene ukrainische Fotografin und TikTokerin Valeria Shashenok trägt auf dieser Aufnahme ein Kleid, das den Horror des Krieges zeigt.
Alleine in London: Die geflohene ukrainische Fotografin und TikTokerin Valeria Shashenok trägt auf dieser Aufnahme ein Kleid, das den Horror des Krieges zeigt. Foto: Valeria Shashenok

In einem ihrer Kurzvideos erzählt Valeria Shashenok von ihrem „typischen Tag“ als Geflüchtete in London. Der 18 Sekunden lange TikTok-Clip zur „Moonlight Serenade“ von Glenn Miller beginnt mit einer roten Telefonzelle, zeigt kurz einen Frühstückstisch, den Bahnhof Paddington, den Saal des Europaparlaments in Straßburg, ein Kaffeetrinken vor dem Rückflug nach London und ein Treffen mit einer Freundin. Er endet mit Tränen.

Ein symbolischer Tag voller Ereignisse, der auch für ein bewegtes Lebensjahr stehen könnte. Seit dem 24. Februar 2022 ist im Leben von Valeria viel passiert.

Die 21-Jährige aus Tschernihiw in der Nordukraine ist durch ihre humorvollen Videos vom Alltag in einem Bombenschutzkeller weltweit bekannt geworden. Sie hat danach den Horror des russischen Angriffskrieges dokumentiert, der ihre Familie nicht verschont hat.

Über 1,4 Millionen Follower

Bei einem Raketenbeschuss starb ihr 18-jähriger Cousin Maksim, der Valeria so nahe stand wie ein Bruder. Sie floh nach Polen, landete dann in Italien und bekam schließlich ein dreijähriges Visum für Großbritannien. Die junge Fotografin wirbt seitdem um Unterstützung für ihr Heimatland auf Plattformen wie Instagram und TikTok, wo sie als @valerisssh mittlerweile mehr als 1,4 Millionen Follower hat.

Sie hat Fernsehsendern Interviews gegeben, Spendenaktionen organisiert und ein Buch veröffentlicht. Der Titel: „24. Februar: Und der Himmel war nicht mehr blau.“

Als mein Cousin starb, ist auch etwas in mir gestorben.
Valeria Shashenok

Die Stimme am anderen Ende der Leitung klingt müde und kraftlos. „Ich kann nicht mehr so intensiv fühlen wie früher“, sagt sie. „Als mein Cousin starb, ist auch etwas in mir gestorben.“ Valeria erzählt, dass sie ein knappes Jahr nach der Tragödie mit Maksim ihre Aktivitäten in den sozialen Medien nutzt, um düstere Gedanken an das Geschehene zu vertreiben. „Das ist wie Medizin für mich. Trotzdem schmerzt es in der Seele.“

Dieser Schmerz ist auf der Aufnahme sichtbar, die sie mit den Lesern von bnn.de teilen möchte: Das Foto zeigt eine traurige junge Frau die am Meeresstrand sitzt und ein auffälliges, reich besticktes Kleid trägt. Auf TikTok kann man die Geschichte dazu sehen.

Im Video holt Valeria das Kleidungsstück aus einem Versandkarton heraus und erklärt, dass es Szenen aus dem Krieg darstellt: Ein Soldat verabschiedet sich von seiner Familie. Ein Mehrfamilienhochhaus brennt. Ein Mädchen steht vor einem Haufen zerstörter Autowracks.

https://www.tiktok.com/@valerisssh/video/7195173207412952325

„Das Kleid stellt dar, wie das ukrainische Volk leidet“: Mit derlei kurzen Botschaften auf Englisch will sie junge Europäer wachrütteln und zu Protesten mobilisieren. „Der Krieg findet auch im Internet statt. Da will ich eine Kämpferin sein“, erzählt der TikTok-Star im Interview.

„Die Videos wirken, das sehe ich an den vielen positiven Reaktionen.“ Es gibt auch vereinzelte Hasskommentare, zum Beispiel, warum sie sich ein „Luxusleben als Flüchtling“ gönne, anstatt an der Front zu kämpfen. Valeria sagt, sie beachte sie nicht.

Frischkäse und Schokolade zum „Kriegsfrühstück“

Am Anfang gab es vor allem Staunen und Bewunderung für die damals 20-Jährige, die am dritten Kriegstag der Welt augenzwinkernd ein Versteckspiel mit dem Tod in einem Kellerraum gezeigt hat. Das Video ist zur Musik der italienischen Tarantella „Che La Luna“ geschnitten.

In rascher Abfolge sind unter anderem zu sehen: ein halbleerer Kühlschrank „ohne Avocado“, Frischkäse und Schokolade zum „Kriegsfrühstück“, zwei Toiletten, eine Dusche, „um sich den Arsch zu waschen“ und Valerias tanzende Eltern. Der bitter ironische Clip ist bis heute 9,7 Millionen Mal abgespielt worden.

Wenn sie sich heute an jene 17 Tagen im Untergrund erinnert, ist ihr nicht mehr nach Lachen zumute. „Ich habe damals meine Freunde vermisst und fand es sehr schwierig, den Schutzkeller nicht verlassen zu können“, sagt Valeria. „Es gab viel Chaos, mein Kopf wollte nicht begreifen, was passiert. Ich wollte in eine andere Realität fliehen.“

Ich wollte in eine andere Realität fliehen.
Valeria Shashenok

In ihrem Buch nennt sie den Krieg „absurd und surreal“. Die Situation sei „schlimmer und schrecklicher, als es die Fernsehkanäle zeigen können“, schreibt Valeria. Sie vergleicht Russlands Präsidenten mit Hitler. Im Interview sagt sie: „Ich hasse Putin und die dummen Leute, die an seine Propaganda glauben.“ Für sie kann es jetzt keine Friedensverhandlungen geben: „Diese Idee macht keinen Sinn. Es gibt nichts zu besprechen mit Putin, der unser Land beherrschen will.“

Sie hat nach eigenen Worten etwa 1.000 Exemplare des Buchs verkauft und 30.000 Dollar an Spenden für die Menschen in Tschernihiw gesammelt. Nach ihren Informationen sind dort mehr als 700 Zivilisten getötet worden. Valeria ist sich sicher, dass ihre Stadt und das ganze Land nach dem Krieg blühen werden. „Die Ukraine wird dann Touristen aus aller Welt anziehen“, sagt sie hoffnungsvoll.

Sie ist alleine in London. Ihre Eltern könnten und wollten nicht fliehen, erzählt am Telefon die TikTokerin. Sie plane „einige Projekte, die von Menschlichkeit handeln“ und lebe ansonsten planlos in den Tag hinein: „Simple Dinge sind wichtig. Familie, Freunde, einfach da zu sein. Ich sehe keine Raketen im Himmel, das gibt mir ein Gefühl der Sicherheit.“ Ihr Herz sei in der Ukraine geblieben, sagt Valeria. Im Frühjahr will sie dem Ruf des Herzens folgen und ihre Heimat wiedersehen.

Lesetipp

Valeria Shashenok - „24. Februar: Und der Himmel war nicht mehr blau“, story.one, 90 S., 16 Euro

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