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Zwei Jahre Krieg

Historiker Klaus Gestwa: „Putin zwingt der Ukraine einen mörderischen Überlebenskampf auf“

Der Tübinger Osteuropa-Spezialist schlägt Alarm: Das angegriffene Land verliert an Boden, da der Westen seine Versprechen nicht erfüllt und Russlands Kriegsmaschinerie auf Hochtouren läuft.

Der Tübinger Osteuropa-Historiker Klaus Gestwa.
Der Tübinger Osteuropa-Historiker Klaus Gestwa nennt das herrschende Regime in Russland eine „vollentwickelte Führerdiktatur“ und warnt, dass Präsident Wladimir Putin die Nato-Staaten destabilisieren könnte. Foto: Foto: Friedhelm Albrecht / Uni Tübingen

Zwei Jahre nach Russlands Überfall auf die Ukraine sorgt sich der Tübinger Historiker Klaus Gestwa über die Wehrhaftigkeit des angegriffenen Landes, dem Munition fehlt, um den russischen Angriffen standzuhalten. Der Westen lasse Kiew im Stich, seine Sanktionen bleiben wirkungslos, während Putin seine Wirtschaft auf Kriegsproduktion umgestellt habe. Der Direktor des Instituts für Osteuropäische Geschichte an der Uni Tübingen warnt, dass es die Ukraine nicht mehr geben wird, wenn sie die Waffen streckt.

Was also tun? Mit dem Kremlchef verhandeln zu wollen, sei naiv, ist der 60-jährige Fachmann überzeugt, der es für möglich hält, dass Russlands Präsident auch die an Russland angrenzenden Nato-Länder destabilisieren könnte, wenn die Abschreckungskraft des Westens nicht ausreicht. Unsere Redaktion sprach mit Gestwa über Szenarien für die Ukraine, die Situation in Russland nach dem Tod von Alexej Nawalny und Putins Ambitionen nach seinem wahrscheinlichen Wahlsieg im März.

Zwei Jahre nach Kriegsbeginn hat es Russland nicht geschafft, die Ukraine einzunehmen. Ist das beruhigend?
Gestwa
Russland ist als militärische Großmacht durch die Ukraine entzaubert worden. Der vom Kreml verkündete „Blitzkrieg“ ist kurz nach Invasionsbeginn gescheitert. Bei Charkiw und Cherson konnten besetzte Gebiete befreit werden. Es gelang den Ukrainern, mehr als ein Viertel der Schiffe der russischen Schwarzmeerflotte zu versenken oder zu beschädigen. Schiffe mit Getreide können deshalb die ukrainischen Häfen ohne größere Gefahren verlassen.
Gestwa
Zuletzt bin ich aber pessimistischer geworden. Die Kriegsdynamik neigt sich zurück zur russischen Seite. Westliche Waffenlieferungen sind ins Stocken geraten. Der Widerstandswille und die Wehrhaftigkeit der Ukraine hängen nicht nur von der Motivation ihrer Soldaten ab, sondern auch von der Unterstützung des Westens. 
Lässt der Westen die Ukraine im Stich?
Gestwa
Die Europäer haben eine Million Granaten versprochen, schickten aber nur ein Drittel davon. Das hat zur Folge, dass ukrainische Truppen täglich nur mehr 2.000 Granaten abfeuern können, während Russland das Fünffache verschießt. Angesichts dieser Artillerieübermacht ist zu erwarten, dass sich die Ukraine an einigen Frontabschnitten zurückziehen muss. In den Appellen Selenskyjs, Waffen und Munition zu liefern, sind Töne der Verbitterung und Verzweiflung hörbar. Innerhalb der ukrainischen Regierung zeigen sich erste Querelen. Ein Indiz dafür war der jüngste Wechsel an der Militärspitze.
Spielt der Dissens in der ukrainischen Führung in Putins Hände?
Gestwa
Natürlich. Putin Spaltungspolitik zielt neben dem kollektiven Westen vor allem auf die Ukraine. Er setzt darauf, Spannungen und Konflikte gezielt zu vertiefen. Momentan schlägt er sich sicherlich auf die Schenkel, wenn er sieht, wie in der ukrainischen Politik die Nerven zunehmend blank liegen. Sein Auftreten wirkt siegesgewiss.
Selenskyj hat auf der Münchner Sicherheitskonferenz gemahnt, dass die EU und USA nicht sein Land, sondern sich selbst fragen sollten, wie lange dieser Krieg gehen wird. Trifft er den Punkt?
Gestwa
Ja. In Deutschland richten sich die Friedensbewegten und Unterzeichner von offenen Briefen an Kanzler Scholz und stellen Forderungen an die Ukraine. Aber die Kriegstreiber sitzen im Kreml. Putins Aussagen machen deutlich, dass er von seinem Kriegsziel – der Zerstörung der Ukraine als unabhängigen Staat und europäische Nation – nicht ablassen will. Er beansprucht große Gebiete der Ukraine als vermeintlich urrussisches Territorium und hat das Völkerrecht durch eine bizarre Geschichtspolitik ersetzt.
Gestwa
Zudem hat er Russlands Wirtschaft auf einen industriellen Zermürbungskrieg eingestellt. Mindestens ein Drittel des Staatshaushalts wird in den nächsten zwei Jahren in den Rüstungssektor fließen. Damit zwingt Putin der Ukraine einen mörderischen Überlebenskampf auf. Selenskyj hat recht, wenn er den Westen in die Verantwortung nimmt und fragt, warum Russland noch in der Lage sei, weiterhin Krieg zu führen.
Wie lautet die Antwort darauf?
Gestwa
Das hat viel mit der zögerlichen militärischen Unterstützung der Ukraine zu tun, die nicht ausgereicht hat, um 2023 den herbeigesehnten Durchbruch an der Südfront zu erzielen. Ferner erzielen die Wirtschaftssanktionen zumindest kurzfristig nicht die erhoffte Wirkung. Sie schädigen zwar die russische Wirtschaft und vergrößern deren technologischen Rückstand. Russland kann aber vor allem durch den Verkauf fossiler Energieträger seine Kriegsmaschinerie weiter finanzieren.
Es gibt die Kritik, dass die Verbündeten Ukraine genügend unterstützen, damit sie nicht verliert – aber zu wenig tun, damit sie den Krieg gewinnt. Sehen Sie das auch so?
Gestwa
Diese Kritik ist gerechtfertigt. Was der Westen versprochen hat, wurde oft zu spät oder nicht vollumfänglich geliefert. Das hat zu dieser blutigen Pattsituation an der Front geführt. Die Lage stellt sich so dar: Wenn Russland seine Truppen zurückzieht, dann wäre der Weg zu einem Frieden frei. Streckt aber die Ukraine die Waffen, dann wird es dieses Land nicht mehr geben, und das würde Putin darin bestätigen, seinen Kriegskurs weiter fortzuführen.
Im Westen treten jetzt manche Pazifisten für einen Kompromiss der Kriegsparteien ein. Sehen Sie überhaupt einen Raum und den politischen Willen dafür?
Gestwa
Ich wundere mich immer wieder über diese Naivität. Ich wäre sehr für Verhandlungen, um zu einem akzeptablen Frieden zu kommen. Aber der Kreml setzt doch auf die Kapitulation der Ukraine oder auf einen Diktatfrieden nach seinen Wünschen. Das würde nicht das Ende des Krieges bedeuten, sondern nur eine Pause der Kampfhandlungen. Es bliebe dann nur eine Frage der Zeit, bis die russische Armee erneut losschlagen würde. Putin braucht Eroberungen. Wenn er keine Triumphe in der Ukraine vorweisen kann, würde das seine Macht erheblich schwächen.
Wie könnte dieser Krieg also beendet werden?
Gestwa
Der immer wieder vorgetragene Dualismus, entweder Waffenlieferungen oder Verhandlungen, ist falsch. Beides baut aufeinander auf. Wir bekommen nur dann einen auf Verständigung ausgerichteten Friedensschluss, wenn die Ukraine in eine Position der politischen und militärischen Stärke kommt.
Gestwa
Erst wenn Russland erkennt, dass es durch den Krieg nichts gewinnen kann, wird man in Moskau bereit sein, über Regelungen zu sprechen, die eine normale Nachbarschaftspolitik mit der Ukraine ermöglichen. Wichtig ist, dass die entsetzlichen russischen Kriegsverbrechen nicht straflos bleiben. Denn das würde in die Politik des 21. Jahrhunderts ein fatales Signal senden.
In Europa wird über ein Szenario diskutiert, wonach Russland in einigen Jahren genügend Ressourcen hätte, um gegen die Nato militärisch vorzugehen. Ist das für Sie vorstellbar?
Gestwa
Ich teile diese Sorge. Das bedeutet nicht, dass es zu einer russischen Invasion in den Nato-Staaten kommen wird. Aber Putin könnte eine zögerliche Haltung des Westens als Aufforderung interpretieren, mit einer hybriden Kriegsführung die baltischen Länder, Polen oder Finnland unter Druck zu setzen, um auszutesten, was sich mit Provokationen und Interventionen erreichen lässt. Dieses Spiel mit der Eskalationsdynamik könnte die Bedrohung eines europäischen Krieges heraufbeschwören.
Putin sagt, dass er keine Interessen daran hat, Polen und Lettland anzugreifen. Ist das glaubwürdig?
Gestwa
Nein. Lügen und Täuschung gehören zu Putins politischem Geschäft. Im Fall der Ukraine zeichnete die russische Propaganda ein bizarres Bedrohungsszenario, um den russischen Angriff als Präventivkrieg erscheinen zu lassen. Derlei propagandistische Farce könnte leicht genutzt werden, um offensive Aktionen Russlands gegenüber Polen und Lettland zu begründen. Putin gestaltet seine Politik seit 25 Jahren in einer Geheimdienst- und Mafia-Manier.
Sollte Europa zur Abschreckung von Putin eigene Atomwaffen haben?
Gestwa
Ich bin skeptisch. Der Aufbau eines starken, rein europäischen Nuklearschilds würde Unsummen verschlingen und einiges an Zeit kosten. Zudem ginge davon das falsche Zeichen aus. Die USA könnten sich dann ganz aus der Nato verabschieden. Das wäre fatal für das Bündnis. Wir kommen aber nicht umhin, die Nato-Ostflanke konventionell zu stärken, um die russische Konfrontationspolitik durch eine wirksame militärische Abschreckung einzudämmen.

Mit Nawalny ist ein Hoffnungsschimmer gestorben

Welche Bedeutung hat der Tod von Alexej Nawalny für Russland?
Gestwa
Er stand als Symbolfigur dafür, dass es ein freies und friedliches Russland jenseits Putins geben könne. Mit Nawalnys Tod ist dieser Hoffnungsschimmer gestorben. Nawalny wollte zum russischen Nelson Mandela werden, um mit seiner Selbstaufopferung ein Zeichen zu setzen und einen demokratischen Aufbruch zu ermöglichen. Die Hinweise verdichten sich, dass es sich bei seinem Ableben um einen kaltblütig inszenierten politischen Mord handelt. Der Zeitpunkt – drei Wochen vor der russischen Präsidentschaftswahl – spricht dafür, dass Putin ein Exempel statuieren wollte, um klar zu machen, dass jegliche Kritik an seinem Regime lebensgefährlich ist. Das wirft einen düsteren Vorschein auf seine kommende Amtszeit. 
Dieser politische Mord könnte viele Russen einschüchtern – oder aber viele wachrütteln. Was ist wahrscheinlicher? 
Gestwa
Die Grabplatte, die Putin über die russische Gesellschaft legen möchte, ist nicht hermetisch abgeschlossen. Ich war angesichts des harschen Polizeiterrors überrascht, wie viele Menschen ihre Trauer über Nawalnys Tod öffentlich bekundet haben. Das spricht dafür, dass es in der Gesellschaft noch Glutnester des Unmuts gibt. Sie könnten sich zu einzelnen Brandherden entwickeln.
Gestwa
Aber ich bin skeptisch, ob sich daraus ein gesellschaftlicher Flächenbrand entwickeln wird, der das Kreml-Regime unter Druck zu setzen vermag. Letztlich wird allein die Machtelite, die mit Putin aufgestiegen ist, darüber entscheiden, was politisch in Moskau weiter geschieht.
Russland wird mittlerweile als Diktatur des Terrors beschrieben, das erinnert an die Stalin-Zeit….
Gestwa
... ja, Putins Regime nutzt Rhetoriken aus dem Stalinismus. Ferner gibt es eine Nähe in der ungenierten Anwendung staatsterroristischer Mittel. Aber ich sehe auch markante Unterschiede. Zugespitzt formuliert: Putin hat von Stalin gelernt. Dessen exzessiver Massenterror hatte den Unterdrückungsapparat so kostspielig und übergroß gemacht, dass der Staatshaushalt darunter litt.
Gestwa
Putin drängt seine Gegner kostengünstig ins Ausland, weil sie von dort nur wenig Einfluss haben. Er statuiert an prominenten Kritikern Exempel, um klarzumachen, was mit Menschen passiert, die sich gegen ihn stellen. Die Mehrheit der Protestierenden überzieht der Kreml mit Schikanen und Geldstrafen. Es ist ein Gesetz in Arbeit, um das Eigentum von Kriegs- und Putin-Gegnern konfiszieren und auch deren Familien den Besitz rauben zu können. Putins System ist weniger mörderisch, aber deutlich raffinierter als das Stalins.
Wie könnte die Agenda für die fünfte Präsidentschaft Putins aussehen?
Gestwa
Innenpolitisch haben wir es mit einer vollentwickelten Führerdiktatur zu tun. Putin kann keinen Nachfolger aufbauen, weil ihn das bald überflüssig machen würde. Zudem wird er darauf achten, dass sein Syndikat ausbalanciert bleibt. Seine Ambitionen werden vor allem der Außenpolitik gelten. Der Kremlchef sieht sich auf einer historischen Mission und will die internationale Ordnung umgestalten.
Gestwa
Darum wird er seinen antiwestlichen Extremismus nutzen, um alle Modernisierungsblockaden in Russland und die fehlende Zukunftsfähigkeit seiner fossilen Diktatur dem Westen in die Schuhe zu schieben. Zudem wird Putin versuchen, ein starkes Bündnis der BRIC-Staaten (Brasilien, Russland, Indien, China, Südafrika) zu schmieden, um mehr Einfluss zu erlangen. Ferner inszeniert sich Russland als antikoloniale Macht, um die Länder des globalen Südens für sich zu gewinnen. Dabei ist angesichts des mit der Krim-Annexion schon 2014 begonnenen russischen Eroberungsdrangs das Ukrainische längst zur Sprache des Anti-Imperialismus geworden.
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