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23. Februar 1945 in Pforzheim

„Meine Schulkameraden wurden erschlagen, sie verbrannten und erstickten“

Der Bombenangriff auf Pforzheim am 23. Februar 1945 hat mehr als 17.600 Menschenleben gefordert. Die Geschehnisse an jenem Abend hat Zeitzeuge Herbert Mohr-Mayer bis heute nicht verarbeitet.

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Ein Bild des Grauens: Der Feuersturm, entfacht durch den Luftangriff britischer Bomber am 23. Februar 1945, hinterließ die Pforzheimer Innenstadt als einziges Trümmerfeld. An diesem Abend starben weit über 17.600 Menschen. Foto: dpa

Herbert Mohr-Mayer träumt oft nachts davon, wie Menschen vor Schmerzen schreiend, brennend aus den Kellern ihrer zerbombten Häuser nach draußen laufen. „Ich höre die Schreie heute noch“, berichtet der 89-jährige gebürtige Pforzheimer vom Abend des 23. Februars 1945, als seine Heimatstadt binnen 22 Minuten in Schutt und Asche gelegt wurde und nach offiziellen Angaben mehr als 17.600 Menschen ihr Leben verloren. 

Das Gespräch mit dieser Redaktion ruft in dem Pforzheimer Erinnerungen wach an Geschehnisse, die er nie verarbeitet hat. „Meine Frau sagte: Das ist nicht heilbar.“

Von den 15 Buben am Pforzheimer Gymnasium sind am Abend zehn tot

Herbert Mohr-Mayer, Unternehmer und Schmuckfabrikant
Überlebender des Luftangriffs: Herbert Mohr-Mayer war elf Jahre alt, als am Abend des 23. Februars 1945 seine Heimatstadt Pforzheim unter Trümmern versank. Foto: Eva Lemke

Von 1965 bis 2005 war Mohr-Mayer Präsident der Pforzheimer Schmuckmanufaktur Victor Mayer. Mittlerweile lebt er in Baden-Baden. Heute, 78 Jahre nach Pforzheims Schicksalstag, erklärt er: „Ich kann Pforzheim nicht mehr sehen. Sobald ich an die Stadtgrenze komme, steigt mein Blutdruck auf 220 zu 150.“ 

Aber kürzlich war der ehemalige Schmuckfabrikant und Juwelier dann doch wieder einmal hier, um im Geschichtskurs einer zwölften Klasse der Schillerschule vor seiner Enkelin und deren Mitschülern von dem Tag zu erzählen, an dem seine Kindheit jäh unwiederbringlich vorbei war.

„Wer das nicht erlebt hat, kann es auch nicht verstehen“, schickt Mohr-Mayer dem Telefonat mit den Badischen Neuesten Nachrichten voraus. „In der deutschen Sprache gibt es keine Worte dafür, so schlimm war das. Man kann das nicht erzählen.“ Er hält inne. „Ich tue es trotzdem.“

Meine Schulkameraden wurden erschlagen, sie verbrannten und erstickten.
Herbert Mohr-Mayer, Zeitzeuge

Herbert Mohr-Mayer ist damals elf Jahre alt. Es ist ein sonniger Wintertag. Bombenalarm gibt es schon am Morgen, als der Gymnasiast in der Schule ist und mit den anderen Kindern und Lehrern zum Schutz in den Keller muss. Es sind 15 Buben, die einander später „Auf Wiedersehen“ sagen.

Für die Meisten jedoch ist es ein Abschied für immer. „Zehn waren am Abend tot“, berichtet Mohr. „Aber sie sind nicht einfach gestorben. Meine Schulkameraden wurden erschlagen, sie verbrannten und erstickten – eingesperrt im Keller.“

Die Bombenalarme gehen weiter. Am Abend reicht seiner Familie und den anderen Bewohnern des Hauses in der Bleichstraße die Zeit nicht mehr, um wie sonst mit Kind und Kegel die anderthalb Kilometer zum Stollen in der Seebergstraße zu rennen. 

Die Flugzeuge sind schon über Pforzheim, so meldet das Radio. Alle fünf Familien eilen die Treppen hinunter in den Keller. Die Stahltür wird geschlossen, die Schutzsuchenden sind eingesperrt. 

Neben dem Elfjährigen sitzen die Mutter und der kleine Bruder. „Dann ging das Prasseln los. Ein ungeheures Getöse begann, alles hat gewackelt und gezittert.“ Das Licht erlischt, und Mohr-Mayer hat noch die letzten Worte des mit einem Mal verstummten Stadtsenders im Ohr: „Achtung, Achtung: Angriff auf Pforzheim. Bomben, Bomben….“.

Ich dachte, ich wäre schon tot.
Herbert Mohr-Mayer, Zeitzeuge

Das Haus wird mehrfach getroffen, aber es bekommt keinen Volltreffer ab. Im Dunkeln und im Staub, den das berstende Mauerwerk aufwühlt, kauert sich die Schicksalsgemeinschaft zusammen. Die einen beten, die anderen schreien in Panik. „Wir wussten: Es ist der letzte Tag, es ist die letzte Sekunde. Ich dachte, ich wäre schon tot.“ 

Sein Empfinden als elfjähriges Kind vergleicht Mohr-Mayer knapp acht Jahrzehnte später mit dem Warten eines zum Tode Verurteilten darauf, dass das Fallbeil herunter saust. „Aber das tat es nicht. Zum Glück.“ Seine Familie bleibt verschont, das Elternhaus ist eines der wenigen Häuser, die noch stehen. 

Als Mohr-Mayer das erste Mal wieder im Freien steht, findet er seine kleine Welt ausgelöscht. Der Metzger liegt tot vor der Ruine seines Hauses, der Bäcker verbrannt. „Dem Gemüsehändler war der Kopf abgeschlagen.“ Die beiden freundlichen alten Damen vom Lebensmittelladen „waren verkohlt wie ein Stück Holz“.

Mehrmals muss Mohr-Mayer seine Schilderungen unterbrechen, er kämpft mit den Tränen und sagt mit gebrochener Stimme: „Das war das Ende meiner Kindheit.“

Er beschreibt, wie leuchtend hell es am Abend nach dem verheerenden Luftangriff der britischen Royal Air Force war: „Die ganze Stadt brannte.“ Die Luft wurde angesogen und vom Nagoldtal her in die Innenstadt hineingeblasen, ein Feuersturm. 

Die Stadt Pforzheim brennt nach dem 23. Februar wochenlang

Und die Stadt brannte über Wochen. Mohr-Mayer sah Frauen und Kinder tot auf zugeschütteten Straßen liegen. Er sah, wie Menschen brennend aus den Ruinen kamen. Die Engländer hätten auf die Brandbomben noch Phosphor geschüttet. „Wer das auf die Kleider bekommt, brennt sofort.“ Was Mohr-Mayer das „Teuflischste vom Teuflischen“ nennt: dass die Bomben zudem mit Zeitzündern ausgestattet gewesen seien.

Er beschreibt die Hilflosigkeit der Überlebenden des Infernos. „Wir waren vier Buben im Haus und arbeiteten wie Männer. Wir mussten mit den Händen Leichen ausgraben.“ 

Noch im Jahr der Zerstörung von Pforzheim am 23. Februar 1945 wurde in der Ruine des Victor-Rehm-Gebäudes wieder notdürftig mit der Produktion begonnen.
Noch im Jahr der Zerstörung von Pforzheim am 23. Februar 1945 wurde in der Ruine des Victor-Rehm-Gebäudes wieder notdürftig mit der Produktion begonnen. Foto: Linde (Repro, Stadtarchiv)

Über Trümmer mussten sie klettern und mit einem Wägelchen menschliche Überreste zum Friedhof transportieren. Mohr-Mayer erinnert sich an den katholischen Pfarrer, dem ein Mann verbrannte Knochen brachte mit der flehentlichen Bitte, er möge sie begraben, sie könnten zu seiner Mutter gehören.

„Wir hatten nur zwei Dinge: Hunger und Angst“, erzählt Mohr-Mayer. Während sie am Tag nach dem Bombardement halfen, Tote zu bergen, gab es weitere Angriffe. „Wir Kinder wurden beschossen.“ Die Engländer habe er damals gehasst, sagt der Unternehmer, der später mit ihnen ebenso wie mit vielen anderen Nationen Geschäfte machte.

Die Schuld von Nazi-Deutschland will der Pforzheimer Schmuckfabrikant nicht kleinreden. Er ist heute davon überzeugt: Die meisten Menschen seien anständig, aber die Obrigkeit sei es nicht, die Nazis nicht, aber auch nicht jemand, der die Entscheidung traf, die Zivilbevölkerung zu bombardieren, um die Soldaten an der Front zu demoralisieren. „Sir Winston Churchill“, sagt Mohr-Mayer, jeden Teil des Namens betonend. 

Er wollte uns Kinder töten. Er wollte mich töten.
Herbert Mohr-Mayer, Zeitzeuge

„Wenn man 500.000 Menschen umbringt, wird man geadelt.“ Ja, es sei Krieg gewesen. „Aber man tötet nicht Frauen und Kinder.“ Damit habe auch Churchill Völkermord begangen. Mohr-Mayer kann es noch heute nicht fassen: „Er wollte uns Kinder töten. Er wollte mich töten.“

Viele Pforzheimer Tote vom 23. Februar wurden noch nicht mitgezählt

Die offiziellen Zahlen der Toten des 23. Februars 1945 sind für ihn weit zu niedrig gegriffen. Für wahrscheinlicher hält er, dass mindestens 25.000, wenn nicht bis zu 30.000 Menschen im Feuersturm umkamen. Beispielweise seien die Insassen zweier von Bomben zerstörter Lazarettzüge am Bahnhof nicht mitgezählt worden. 

„Man hat auch nie über die Verletzten gesprochen. Die Menschen ohne Arme und Beine, die am nächsten Tag gestorben sind. Man konnte ihnen nicht mehr helfen. Sie sind verreckt.“

Im September wird Mohr-Mayer 90 Jahre alt. Er hat ein arbeitsames, gutes Leben gehabt und nie mehr zurückgeschaut. Auch seinen Kindern nichts über den 23. Februar 1945 erzählt. Doch die Vergangenheit hole ihn ein, sagt er. „Heute habe ich Zeit zum Nachdenken.“

„Wir haben überlebt – Tausende nicht.“ Nie wieder Krieg, sei seither seine Haltung gewesen. Doch jetzt, wenn er Berichte über den Krieg in der Ukraine verfolgt, sieht er, „dass es wieder los geht. Der Mensch ist halt so“.

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