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Umgang mit Ängsten und Sorgen

Karlsruher Klinikseelsorger Mertins: „Wir haben vieles in der Hand“

In Krisenzeiten ab und zu innehalten und in kleinen Schritten die Herausforderungen meistern. Das ist die Empfehlung eines Klinikseelsorgers in Karlsruhe, der für mehr psychische Resilienz plädiert.

Der Karlsruher Matthias Mertins leitet die Katholische Klinikseelsorge in den ViDia-Kliniken.
Matthias Mertins leitet die Katholische Klinikseelsorge in den ViDia-Kliniken. In schwierigen Zeiten rät er dazu, sich bewusst auf das Jetzt zu konzentrieren, Auszeiten zu nehmen und den Nachrichtenkonsum zu dosieren. Foto: Matthias Leidert / Vidia

Der Karlsruher Klinikseelsorger Matthias Mertins erlebt in seinem Arbeitsalltag in den ViDia-Kliniken oft Patienten, Angehörige und Mitarbeiter, die unter großen psychischen Belastungen stehen und sich permanent gestresst fühlen. Wenn dann noch, wie in diesem Jahr, die weltpolitische Lage sich verschärft, die Angst vor dem Extremismus wächst und Geldsorgen hinzukommen, wird es manchen Menschen zu viel.

Was hilft? Manch einer geht gegen den Rechtsruck demonstrieren, andere suchen Halt im Freundeskreis, wenden sich ihren Hobbys zu oder helfen anderen Menschen. Was außerdem helfen kann, wie man in schwierigen Zeiten Zuversicht schöpft und sich seinen Ängsten stellt, erzählt der katholische Pfarrer im Interview mit unserer Redaktion.

Eine Grundstimmung aus Ängsten und Verdrossenheit macht sich in Deutschland breit, im Januar äußerten sich 82 Prozent der Bürger besorgt über die Situation. Nehmen Sie aktuell viel Frust wahr?
Mertins
Ja, ganz viel. Ich bin seit 20 Jahren im klinischen Bereich tätig als Seelsorger, und bin in Kontakt mit Ärzten, Pflegenden, Patienten und Angehörigen. Das Krankenhaus ist die Welt im Kleinen. Es gibt so etwas wie einen gesunden Stress. Wenn ich das, was auf mich zukommt, als eine positive Herausforderung erlebe und merke, ich kann daran wachsen, ist das konstruktiv. Was ich aber bei uns sehe, ist, dass diese Stimmung gekippt ist. Es kommt zum negativen Stress.
Wann ist das gekippt?
Mertins
Mit Corona. Davor war das Gesundheitssystem schon am Limit. Die Pandemie kam hinzu wie ein Tropfen auf ein Fass, das bis oben voll steht. Die Unsicherheiten, die gerade am Beginn der Pandemie verbreitet waren, haben das Ganze zum Überlaufen gebracht. Aus einer Herausforderung wurde nur noch eine Überforderung.
Psychische Erkrankungen sind der dritthäufigste Krankheitsgrund, sie verursachen Arbeitsausfall in Rekordhöhe. Fehlt uns die ausreichende Resilienz?
Mertins
Das auf jeden Fall. Das muss nicht unbedingt ein konfessioneller Gottesglaube sein, einfach nur ein Wertesystem. Wenn ich mich im Alltag nicht damit verbinde, bleibe ich ständig in dieser Mühle: von Tag zu Tag, von Erlebnis zu Erlebnis. Dass eine Resilienz wachsen kann, erfordert, dass ich zu mir finde. Wir aber sind in einer Situation, die uns ständig aus uns herauswirft. Ich erlebe das bei Patienten: Die rennen durch ihren Alltag, versuchen redlich, Dinge zu erledigen und wundern sich darüber, dass sie nur noch müde sind. Auf einmal kommt eine schwere Diagnose. Dann kommt der Schnitt, sie liegen im Bett und starren die weiße Wand an. Das ist ein Herunterfahren von 1.000 auf Null.
Viele Menschen leben nicht im Jetzt, sondern haben die Probleme der nächsten Stunde, des nächsten Tages im Kopf und setzen sich ständig damit auseinander. Was hilft?
Mertins
Die Tendenz bei vielen ist, von Urlaub zu Urlaub oder von Wochenende zu Wochenende zu leben. Man läuft sich selbst hinterher und lebt eigentlich gar nicht, sondern wird von etwas anderem bestimmt. Die Sehnsucht nach Erholung neben dem Alltag ist mit überhöhten Erwartungen verbunden. Das Wochenende muss dann einfach knallen, alles muss stimmen. So funktioniert es aber nicht, das erzeugt Frust. Ich empfehle deswegen, sich immer wieder in den Augenblick zu versetzen und sich bewusst zu machen: Ich mache jetzt dieses oder jenes. So kann man Ruhe und Abstand gewinnen zu Dingen, die uns beschäftigen. Solche Achtsamkeitsübungen mache ich selbst: Wenn ich merke, dass ich in eine Station renne, aber keine Eile geboten ist, dann gehe ich bewusst hin.
Das ist ein schwieriges Jahr. Der Ukraine-Krieg geht weiter, Trump könnte an die Macht kommen, bei Wahlen im Osten werden Erfolge der AfD gefürchtet. Das könnte trotzdem Nervosität nähren…
Mertins
…ja, früher war Krieg weit weg, nun ist er näher, es kommen Flüchtlinge zu uns. Dabei sind viele Menschen ohnehin am Limit. Manche haben Probleme im Job, eine Beziehung ist vielleicht in die Brüche gegangen, oder jemand ist knapp bei Kasse. Das Stakkato an schlimmen Nachrichten, die minütlich im Smartphone ankommen, trifft oft die Menschen, die gerade nicht in sich selbst stehen.
Manche schauen keine Nachrichtensendungen mehr, weil sie die Flut an schlechten Nachrichten über Kriege, Krisen und Nöte nicht ertragen können. Wie gehen Sie damit um?
Mertins
Ich dosiere sie. Ich bin kein großer Fan von Handys und ein typischer Zuschauer der Abendnachrichten im Fernsehen. Die Nachrichten dort werden eingeordnet und journalistisch aufgearbeitet, sie sind differenzierter.
Kann man schlechte Nachrichten, über die auch im Alltag viel geredet wird, einfach ausblenden?
Mertins
Nein. Weil ich ja das Leben nicht ausblenden kann. Es gibt diese Tendenz, dass Leute dicht machen und sagen: Das interessiert mich nicht. Die Gefahr ist, dass man sich damit herauskatapultiert aus einer sozialen Gemeinschaft, aus der Verantwortung. Ich möchte das, was in der Welt passiert, umfassend erfahren. Aber ich möchte davon nicht wie mit Pfeilen beschossen werden, das tut mir nicht gut.
Für manche Menschen ist das Glas halb leer, sie sehen gerne schwarz und haben nicht viel Grundvertrauen. Wie kann man optimistischer werden und Zuversicht schöpfen?
Mertins
Ich kann meinen Blick verändern. Damit werde ich kein anderer Mensch, aber ich werde anders. Jemandem, der das Glas eher halb leer sieht, empfehle ich, sich in Erinnerung zu rufen, was im Leben ziemlich gut läuft. Da kommt oft viel zusammen. Es gibt aber auch Menschen, die mit einem Optimismus hindurch rasen und das Elend rechts und links nicht sehen. Denen muss man ab und zu sagen: Es gibt auch die Kehrseite des Lebens, schau mal hin. Vor der muss man keine Angst haben.
Ein Teilnehmer mit einem Schild, auf dem Angst als die schlimmste Pandemie aller Zeiten bezeichnet wird, steht in der Menge an Menschen, die einen Gottesdienst feiern.
Die Ängste vor dem Wohlstandsverlust, Klimawandel, Krieg in Europa, Zuwanderung und den Gefahren für die Demokratie durch rechten Populismus treiben in Deutschland gerade viele Menschen um. Foto: Felix Kästle /dpa

Es gibt viele Dinge, die jeder verändern kann

Wer sich belastet fühlt, hat das Gefühl, keine Kontrolle zu haben. Das entspricht manchmal der Realität: Es gibt Dinge, die nicht in unserer Macht sind. Wenn sich jemand gefangen fühlt in solch einer Situation, was kann er oder sie tun?
Mertins
Jeder kennt die Erfahrung von Resignation, Vergeblichkeit und Ohnmacht. Wir können große Systeme und andere Menschen, die uns zum Teil viel zu sagen haben, nicht ändern. Man kann sich dann daran ein Leben lang abarbeiten. Das bringt aber nichts und kostet Kraft. Die könnte ich einsetzen, um realistisch zu schauen: Wo sind Räume, die sich in kleinen Schritten verändern lassen? Es gibt viele Dinge, die ich selbst in der Hand habe. Es ist eine Kunst, die zu sehen. 
Aktive Menschen, die sich ehrenamtlich engagieren und etwas für die anderen tun, sind oft zufriedener und positiver eingestellt als andere. Ist das eine Idee für schwierige Zeiten?
Mertins
Es kann uns gut tun, wenn wir versuchen, uns im Kleinen einzubringen und Verantwortung zu übernehmen. Das Ehrenamt ist eine Möglichkeit. Man merkt auf diese Weise, dass sich andere Menschen engagieren und kommt mit der Realität konstruktiv in Verbindung. Man kann sich aber auch fragen: Was kann ich in meinem Berufsleben verändern?
In schwierigen Zeiten auch mal Ablenkung zu suchen mit Ferngucken oder Computerspielen: eine gute Idee?
Mertins
Grundsätzlich ja. Jeder braucht Phasen zum Abschalten, beim Durchzappen im Fernsehen oder bei Musik hören. Man muss nur aufpassen, dass das Abschalten nicht anfängt, mich zu beherrschen. Wenn ich bewusst eine halbe Stunde oder eine Stunde Zeit nehme, dann habe ich eine Entscheidung getroffen: Nach dieser Zeit ist der Fernseher aus. Sonst bin ich vielleicht nur noch am Zappen und mehr geschafft als zuvor. Dann wäre der Erholungswert gegen null.
Angst ist ein Mechanismus, der beschützen soll, aber zu viel Angst vor dem Klimawandel, dem Krieg oder dem sozialen Abstieg kann belastend sein. Wie kriegt man sie im Griff?
Mertins
Die Angst ist ein Warnsystem. Sie soll uns schützen, damit gewisse negative Dinge uns nicht überrollen. Wenn man jedoch die Angst verdrängt, kann sie sich potenzieren. Es geht also darum, die Angst vor der Angst zu verlieren. Jeder, der eine Angststörung hat, muss lernen, Ängste bewusst auszuhalten und anzuschauen. Das ist alles andere als angenehm. Aber wenn ich mich ihnen stelle, wird ihr Potenzial geringer. Eine unbestimmte Angst braucht zudem eine Berührung mit der Realität. Was ist ihr Inhalt? Wenn ich es schaffe, der Angst einen Platz in mir zu geben – neben der Hoffnung und neben all dem, was ich kann – dann beherrscht sie mich nicht mehr.
Manche greifen zu Meditation, Yoga oder Sport, um sich seelisch besser zu fühlen. Sie auch?
Mertins
Ich bin kein Yoga-Fan. Mir geht es nicht darum, mich in eine andere Welt zu beamen. Christlicher Glaube sagt: Nicht dran vorbei, schon gar nicht darüber hinweg, sondern bewusst hindurch. Ich setze mich deswegen kurz irgendwo hin und überlege: Wo stehe ich? Wie geht es mir? Und entscheide bewusst: Das will ich jetzt tun. Dann kommt da eine größere Wirklichkeit rein. Ich bin der Situation nicht ausgeliefert, sondern mit meiner Freiheit und meiner Würde darin.
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