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Angst und Entbehrungen

Geschichten von Hunger und Vertreibung: So erlebten Kinder in Karlsruhe den Krieg

Die schlimmste Krise seit dem Zweiten Weltkrieg. So wird die Corona-Pandemie seit einem Jahr regelmäßig tituliert. Doch welche Entbehrungen und Ängste haben Krieg und Nachkriegszeit für die Menschen mitgebracht? Einige Karlsruher lassen diese Zeit für die BNN Revue passieren.

Ruine Mühlburg
Die Nordseite der Rheinstraße zeigt nach dem Bombenangriff vom 4. Dezember 1944 ein Bild der Zerstörung. Im Keller des Gasthauses Drei Linden (der komplette dunkle Hausblock links) starben 97 Menschen. Foto: Stadtarchiv Karlsruhe

Den 22. September 1946 wird Maria Schäfer in ihrem Leben nicht mehr vergessen. „Uns wurde gesagt, dass wir am nächsten Morgen fortgebracht werden. Wohin, dass wusste niemand. Also haben wir unsere Sachen gepackt und gewartet“, erinnert sich die 86-Jährige an den Tag vor ihrer Vertreibung aus dem Böhmerwald.

Maximal 50 Kilogramm pro Person waren erlaubt, deshalb nahmen die zwölfjährige Maria und ihre Mutter vor allem Proviant für die Reise ins Ungewisse mit.

Der Vater war bereits an der russischen Front gefallen, nun mussten Mutter und Tochter wegen der Enteignung und Vertreibung von Tausenden Sudetendeutschen auch noch den kleinen landwirtschaftlichen Betrieb im böhmischen Weiler Neuhäuseln nahe der tschechischen Stadt Kaplitz aufgeben.

In Viehwaggons bis nach Karlsruhe

Groß Zeit zum Abschied nehmen oder Nachdenken hatten die beiden allerdings nicht. Bereits am Tag nach der Ankündigung wurden sie in einem Zug gemeinsam mit über 1.000 weiteren Heimatvertriebenen in den Westen gebracht. „Wir saßen eng zusammengepfercht in Viehwaggons. Niemand konnte sagen, wo wir gerade waren und alle paar Tage wurde ein Waggon abgehängt“, beschreibt Maria Schäfer die entbehrungsreiche Fahrt in die neue Heimat.

Wir hatten alles verloren und mussten komplett neu anfangen.
Maria Schäfer, erlebte Vertreibung aus Böhmen

Nach zwei Wochen waren dann auch sie und ihre Mutter am Ziel angelangt. Vom Karlsruher Hauptbahnhof ging es quasi direkt zu einer Notunterbringung in Grünwettersbach. „Wir hatten alles verloren und mussten komplett neu anfangen“, erzählt Maria Schäfer. Während die Mutter in der Maschinenfabrik Gritzner in Durlach den Lebensunterhalt verdiente, kümmerte sich Maria Schäfer bereits als Kind um Haushalt und Garten.

Schäfer
Erlebte Krieg und Vertreibung: Maria Schäer – hier mit Ehemann Heinz. Foto: Maria Schäfer

Zum Jammern blieb keine Zeit, schließlich waren nach dem Krieg fast alle Menschen mit dem Wiederaufbau beschäftigt. „Erst rückblickend wird mir klar, was das für eine schlimme Zeit war“, sagt die Rentnerin aus Wolfartsweier heute.

Aus Berlin herausgeflogen bis zur Großmutter nach Ettlingen

Alleine in einer fremden Umgebung war in den Nachkriegsjahren auch Heiner Lichti. Im Spätsommer 1948 wurde er als zehnjähriger Bub gemeinsam mit seiner Schwester in einer alten Fallschirmjägermaschine von Berlin nach Lübeck geflogen und von dort über mehrere Umwege zur seiner Großmutter nach Ettlingen gebracht. Der Vater kam erst 1952 nach, die Mutter mit den jüngsten Geschwisterchen noch einmal zwei Jahre später.

Lichti
Floh vor Bomben: Ein Schleichweg rettete Heiner Lichti das Leben. Foto: Heiner Lichti

„Man brachte damals die Kinder aus Westberlin raus. Weil Berlin über die Luftbrücke versorgt wurden, wollte man in der Stadt so wenige Esser wie möglich haben“, erzählt Heiner Lichti. Außerdem ging in Westberlin die Sorge vor einer Invasion durch die russischen Besatzer um. Auch deshalb wurden Familien von den Bezirksverwaltungen aufgefordert, ihren Nachwuchs zur Verwandtschaft im Westen bringen zu lassen.

Flucht vor dem Bombenhagel im Zweiten Weltkrieg

Für Heiner Lichti war die Reise ins Badische trotz der Trennung von den Eltern aber auch eine Erleichterung. Denn in Berlin hatte er in den 1940er Jahren die kompletten Gräuel des Zweiten Weltkrieges erlebt. Nach einem Bombenangriff musste er mit seiner Mutter aus einem brennenden Keller flüchten und konnte nur dank eines Schleichwegs über eine Apotheke sein Leben retten.

An Schule war spätestens ab dem Herbst 1944 auch nicht mehr zu denken. „Ich habe gerade einmal drei einigermaßen normale Volksschuljahre erlebt“, so Heiner Lichti. Nur dank einer engagierten Lehrerin, die das Pensum der vierten Klasse mit den Kindern in den Sommerwochen nacharbeitete, habe er später den Sprung aufs Gymnasium geschafft.

„Der Vorteil war, dass ich im Gymnasium in Ettlingen und später beim Studium in Karlsruhe immer der Jüngste war“, erzählt der 83-jährige Chemie-Ingenieur mit einem Schmunzeln. „Je älter man wird, desto klarer werden manche Erinnerungen“, sagt Heiner Lichti heute. Während der Corona-Krise habe er mit dem Schreiben seiner Memoiren begonnen.

Seine Memoiren bereits geschrieben hat Dietmar Schmeiser. In seinem Buch „Bunsenstraße Nr. 3“ lässt der promovierte Psychoanalytiker seine Kindheit und Jugend in der von Kriegswirren geprägten Karlsruher Weststadt Revue passieren. Im Kapitel „Bombennächte“ beschreibt er die Ängste der Hausbewohner im Luftschutzkeller während der Luftangriffe auf Karlsruhe.

Zum Schutz vor Fliegerangriffen von Karlsruhe nach Unterkessach

Viel zu erzählen hat auch Charlotte Reißle. „Je älter man wird, desto klarer kommen die Erinnerungen zurück. Erst vor wenigen Tagen haben wir mit Bekannten wieder über die Zeit nach der Bombardierung von Karlsruhe geredet“, sagt die 83 Jahre alte Hagsfelderin. Ihre Mutter und ihre Geschwister wurden damals aus Schutz vor weiteren Fliegerangriffen nach Unterkessach bei Widdern an der Jagst gebracht.

Reißle
Kindheit im Krieg: Charlotte Reißle aus Hagsfeld musste vieles entbehren. Foto: Charlotte Reißle

„Wir standen da wie die Orgelpfeifen. Aber wir haben das Beste aus der Situation gemacht und sind wie wild auf den Betten herumgehüpft“ An Entbehrungen habe es jedoch nicht gemangelt. Zurück nach Karlsruhe ging es nach Kriegsende 14 Tage lang zu Fuß und mit Neckar-Kähnen.

Die Leute waren einfach nur froh, dass der Krieg vorbei war.
Charlotte Reißle

Bezahlt wurde die Überfahrt mit den wenigen Nahrungsmitteln, deshalb mussten sich Kinder wie Charlotte Reißle einen Laib Brot eine ganze Woche lang einteilen. Und nach der Rückkehr waren alle Generationen zunächst mit dem Wiederaufbau beschäftigt „Aber der Zusammenhalt war sehr groß“, erinnert sich Charlotte Reißle. „Die Leute waren einfach nur froh, dass der Krieg vorbei war.“

So denken die Karlsruher über die Corona-Krise

Während der Corona-Krise hatte sie keine Kontakte und viel Zeit zum Nachdenken gehabt, sagt die weiter. „Aber wir haben wenigstens ein Dach über dem Kopf und leben in Friedenszeiten.“ Und selbst wenn die Erinnerung an den Krieg manchmal schmerzt, fuhr Charlotte Reißle vor einem Jahr noch einmal nach Unterkessach und stattete dem Bauernhof, der für sie wenige Wochen lang ein sicherer Hafen war, einen Besuch ab.

Maria Schäfer hat das ehemalige Haus ihrer Familie übrigens nie wiedergesehen. Erst waren die Grenzen viele Jahre versperrt. Später hat sie nicht mehr die Kraft aufgebracht, sich der Vergangenheit zu stellen.

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