Von Lesefaulheit ist in der Gemeindebücherei Bad Schönborn keine Spur. Im Gegenteil: „Die Ausleihzahlen sind in die Höhe geschossen“, freut sich Bibliothekarin Linda Sandhöfer. Rund 850 Kinder- und Jugendbücher seien im November bereits über die Ausleihtheke gegangen – normalerweise seien es im Monat etwa 500.
Seitdem die Bücherei wegen Corona geschlossen hat, packen Sandhöfer und ihre Kolleginnen fleißig „Überraschungsboxen“ mit Büchern. Der Lesestoff kann zu den Öffnungszeiten der Bibliothek abgeholt werden. „Wenn es kälter wird und die Kinder viel Zeit zuhause verbringen, sind Bücher Gold wert“, sagt Sandhöfer. Die Bibliothekarin rät: Eltern sollten ihren Kindern möglichst viel vorlesen. Am besten schon ab dem Kleinkindalter: „Wer liest, versteht die Welt besser.“
Die Gute-Nacht-Geschichte nach dem Zähneputzen und vor dem Schlafengehen: dieses Ritual ist aus der Mode gekommen. Etwa ein Drittel aller Eltern in Deutschland lesen ihren Kindern selten oder nie vor. Das hat eine gemeinsame Vorlesestudie von „Zeit“, Stiftung Lesen und Deutsche-Bahn-Stiftung anlässlich des bundesweiten Vorlesetags an diesem Freitag, 20. November, ergeben.
Petra Lucas kann das bestätigen: „Das Lesen verliert zunehmend an Bedeutung“, bedauert die stellvertretende Leiterin des Kindergartens St. Elisabeth in Bruchsal. Der Kindergarten veranstaltet regelmäßig Bilderbuchtage, zu denen Kinder ihr Lieblingsbuch mitbringen sollen. „Manche Eltern müssen extra dafür ein Buch kaufen gehen.“
Eltern greifen aus Bequemlichkeit zum Tablet
Warum sind viele Eltern zu Lesemuffeln geworden? „Viele haben keine Zeit oder wollen sie sich nicht nehmen“, vermutet Lucas. Statt zum Bilderbuch greifen sie aus Bequemlichkeit zum Smartphone oder zum Tablet: „Wenn das Kind vor dem Tablet sitzt, ist es erst einmal ruhig.“ Die Folgen sind laut Lucas fatal: „Der Wortschatz der Kinder geht zurück. Die Sprache wird ärmer.“
Im Kindergarten St. Elisabeth gibt es daher eine internationale Bibliothek, in der Eltern sich Bilderbücher ausleihen können. Bücher in deutscher Sprache, aber auch arabische und türkische Bücher stehen dort im Regal. Wichtig sei, dass überhaupt gelesen werde. In welcher Sprache, sei zweitrangig. Denn: „Beim Vorlesen geht es nicht nur um Sprache, sondern auch um Zwischenmenschlichkeit.“
Textverständnis nimmt ab
An der Wilhelm-Busch-Grundschule in Waghäusel lesen die Kinder ihren Eltern vor: Mindestens zehn Minuten am Tag sollten es sein. Dafür bekommen sie Punkte, die aussehen wie die Glieder einer Raupe. Je mehr geschmökert wird, desto länger wird die Raupe.
So will die Schule die Lesefähigkeiten der Schüler trainieren – etwas, dass zuhause oft zu kurz kommt, weiß Rektorin Sandra Steinle. Die Folge: „Das Leseverstehen nimmt ab.“ Das zeige sich nicht nur im Deutschunterricht, sondern auch in anderen Fächern. Bei Textaufgaben in Mathematik scheitern viele Schüler zum Beispiel nicht mehr am Rechnen, sondern am Leseverstehen, so Steinle.
Vorlesen ist extrem wichtig für die Sprachentwicklung.Mario Stiefel, Schulleiter in Forst
An der Astrid-Lindgren-Schule in Forst werden Kinder unterrichtet, die stottern oder andere Sprachprobleme haben. Solche Probleme nähmen zu, sagt Schulleiter Mario Stiefel. Liegt das daran, dass immer weniger Eltern ihren Kindern vorlesen? „Das ist Spekulation“, so Stiefel. Klar sei aber: „Vorlesen ist extrem wichtig für die Sprachentwicklung.“
Und für die Bildung der Persönlichkeit, betont Werner Schnatterbeck, stellvertretender Vorsitzender der Bruchsaler Bildungsstiftung. Er findet: Schulen und Kindergärten müssen bei den Eltern mehr Werbung fürs Vorlesen machen: „Lesen und Vorlesen ist unersetzlich.“