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Kritik in der Ortenau

Gibt es einen Missbrauch von Sozialleistungen durch Ukrainer?

Es wird behauptet, dass einige geflohene Ukrainer in Deutschland mit „nagelneuen“ Pässen ankommen und Kinder- und Bürgergeld ohne Identitätsprüfungen erhalten. Stimmt das?

Ein Mann hält einen ukrainischen Reisepass in der Hand.
Vom Krieg geflohene Ukrainer dürfen sich für eine begrenzte Zeit in Deutschland niederlassen und hier Sozialleistungen erhalten. Nicht immer verläuft das reibungslos. Foto: Jens Büttner/dpa/Symbolbild

Der russische Angriffskrieg auf die Ukraine hat die größte Fluchtbewegung in Europa seit Ende des Zweiten Weltkriegs ausgelöst. Bis Anfang 2023 hat Deutschland rund eine Million Menschen aus dem überfallenen Land aufgenommen. Etwa 150.000 von ihnen haben in Baden-Württemberg vorübergehend eine neue Heimat gefunden (Stand: Anfang Juni).

Die große Mehrheit der geflüchteten Ukrainer fühlt sich in Deutschland willkommen. Umgekehrt begrüßen zwei Drittel der Deutschen, dass Ihr Land den Menschen in Kriegsnot gemäß der sogenannten Massenzustromrichtlinie der EU weiterhin die sichere Aufnahme gewährt.

Aufnahme von ukrainischen Kriegsflüchtlingen ist Herausforderung für Kommunen

Einzelne kritische Stimmen lassen dennoch aufhorchen: Während die Aufnahme und Versorgung von ukrainischen Kriegsflüchtlingen zumeist problemlos ablaufen, beklagen einige Kommunen „große Herausforderungen“ – auch in unserer Region.

Neben den Schwierigkeiten bei der Integration, Unterbringung und Versorgung von Flüchtlingen mancherorts im Südwesten gibt es auch Zweifel, ob sich die aus der Ukraine aufgenommenen Menschen hier rechtmäßig aufhalten und Sozialleistungen wie Bürger- und Kindergeld beziehen. Was ist dran an diesen Vorwürfen?

Alexei Makartsev liefert einige Antworten und Erklärungsversuche.

Unter anderem in der Ortenau ist von angeblichen „Familienclans“ der Roma aus der Ukraine zu hören, die zurzeit den Behörden Schwierigkeiten bereiten würden. Stimmt das?
Ja. Das bestätigt auf Anfrage unserer Redaktion die für Migration zuständige Dezernentin im Landratsamt des Ortenaukreises, Alexandra Roth. Sie sieht unter anderem die „besonderen Familienstrukturen“ der aus der Ukraine geflüchteten Roma als ein Problem: „Sie sind es gewohnt, in großen Familienverbänden zusammenzuleben, was bei uns im Ortenaukreis aufgrund des dafür fehlenden Wohnraumes oft nicht möglich ist. Mitbewohner und Nachbarn sind dadurch oft verunsichert und teilweise verängstigt.“
Was konkret stört diese Nachbarn?
Nach Darstellung von Roth gibt es Kritik an der „anderen Art der Sozialisierung im Bereich der Kindererziehung, Körperhygiene und Haushaltsorganisation“ bei den Roma. Viele von ihnen seien nicht alphabetisiert und hätten kein Verständnis für die Schulpflicht ihrer Kinder oder das Bewusstsein dafür, dass diese regelmäßig den Kindergarten besuchen. Die Kinder seien ferner wegen des fehlenden Zugangs zur Gesundheitsversorgung in der Ukraine nicht geimpft und hätten keine Vorsorgeuntersuchungen gehabt, was den Ärzten Probleme bereite. Weiterer Kritikpunkt: „Der Lebensunterhalt wurde oft durch Bettelei sichergestellt.“
Wie groß ist dieser Personenkreis in der Ortenau?
Die Anzahl der ukrainischen Roma-Flüchtlinge in der vorläufigen Unterbringung beträgt nach Angaben des Landratsamtes derzeit rund 40 Personen. 125 weitere Personen seien den Städten und Gemeinden zur Anschlussunterbringung zugewiesen worden. Das zuständige Dezernat hat keine Informationen darüber, ob und wie viele Roma noch in dieser Unterbringung sind.
Was ist dran an den Berichten, wonach die mit „nagelneuen ukrainischen Pässen“ einreisenden Roma-Großfamilien keine Ukrainer sind, weil sie sich weder auf Ukrainisch noch Russisch verständigen, sondern Ungarisch sprechen?
In der Ukraine leben bis zu 400.000 Roma, vor allem in Transkarpatien, der Grenzregion neben Ungarn und Rumänien. Ein Teil von ihnen lebt marginalisiert, wird diskriminiert und hat keinen Zugang zu Bildung, womit sich möglicherweise die mangelnden Kenntnisse von Sprache und Landeskunde erklären lassen. Diese Menschen sind ebenso vom Krieg betroffen wie andere Ukrainer, weswegen viele von ihnen fliehen. Nach Angaben des Zentralrats Deutscher Sinti und Roma besitzen bis zu 20 Prozent der ukrainischen Roma keine Ausweisdokumente, was ihre Aufnahme im Ausland erschwert. Mindestens 100.000 sollen die ungarische Staatsbürgerschaft besitzen. Eine Regelung der ungarischen Regierung von 2010 ermöglicht die erleichterte Einbürgerung den Menschen in Nachbarländern, die eine ungarische „Ahnenlinie” nachweisen können.
Hat diese Regelung rechtliche Konsequenzen in Deutschland?
Ja. „Personen, die neben der ukrainischen Staatsangehörigkeit auch die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats der EU besitzen, haben keinen Anspruch auf Erteilung eines Aufenthaltstitels nach § 24 AufenthG“, erklärt auf Anfrage das Landesjustizministerium in Stuttgart. Mit anderen Worten: Ob sie zu einer ethnischen Minderheit gehören oder nicht, ukrainische Staatsbürger, die außerdem noch ungarische Pässe besitzen, fallen nicht unter die Massenzustromrichtlinie. Sie dürften hier keine Aufenthaltserlaubnis beantragen und sind demzufolge nicht berechtigt, Kinder- und Bürgergeld zu erhalten. „Anfangs war diese spezielle Problematik nicht bekannt“, sagt Migrationsdezernentin Roth aus der Ortenau. „Daher sind mit Sicherheit auch im letzten Jahr einige Aufenthaltserlaubnisse falsch ausgestellt und entsprechende Sozialleistungen unberechtigterweise bezogen worden.“
Haben die Behörden Kenntnis von dem möglichen Missbrauch von Sozialleistungen?
Ja. Das Bundesinnenministerium ist nach eigener Darstellung durch die Länder auf solche Fälle hingewiesen worden und hat gemeinsam mit Ungarn und der Ukraine eine Prüfung des Sachverhaltes begonnen. „Konkrete Ergebnisse liegen noch nicht vor“, schreibt das Ministerium auf unsere Anfrage. In Baden-Württemberg hat das Justizministerium Ende Mai in Absprache mit ungarischen Behörden ein Verfahren eingerichtet, das den Ausländerbehörden im Land die Überprüfung einer möglichen ungarischen Staatsangehörigkeit von Ukrainern ermöglicht.
Wie funktionieren solche Überprüfungen in unserer Region?
Aus dem Ortenaukreis wurden bislang 123 Personalien an das Regierungspräsidium (RP) Karlsruhe zur Überprüfung gemeldet. Im Verhältnis zu den etwa 5.500 aufgenommenen Ukrainern im Kreis ist das nicht sehr viel. Die Antworten des RP stehen noch aus. Laut Roth müssen mittlerweile alle Flüchtlinge aus der Ukraine bei der Aufnahme eine Erklärung unterschreiben, dass sie keine zusätzliche EU-Staatsbürgerschaft besitzen. Die Ausländerbehörde des Landratsamtes fordere die Familien im Verdachtsfall auf, eine „Negativbescheinigung“ der ungarischen Behörden vorzulegen: „Da dies wohl häufiger vorkommt, sind dieses Jahr keine Termine mehr bei der ungarischen Auslandsvertretung für diesen Zweck zu erhalten.“
Wie sehen die Flüchtlingshelfer das Problem der ukrainischen Roma?
Monika Huber engagiert sich beim Verein „Achern Miteinander“ ehrenamtlich für Geflüchtete. Zwar würden die Roma-Familien im Stadtbild auffallen und gelegentlich für Unmut sorgen, wenn es laut wird. Doch Huber nimmt nach eigenen Worten generell „keine kritische Stimmung“ gegen sie wahr. Das Betteln sei nicht verbreitet, sie habe das nur einmal vor einem Supermarkt erlebt. „Unsere Sozialarbeiter spielen und malen mit diesen Kindern, die sonst nichts zu tun haben. Sie freuen sich sehr darüber, und auch ihre Eltern sind uns dankbar“, sagt Huber.
Der CDU-Bundesvorsitzende Friedrich Merz bei einer Pressekonferenz im Reichstagsgebäude.
Friedrich Merz sorgte mit dem Begriff „Sozialtourismus“ für heftige Debatten. Foto: Kay Nietfeld/dpa
CDU-Chef Friedrich Merz hat im Herbst 2022 mit dem Begriff „Sozialtourismus“ heftige Debatten ausgelöst. Wie oft kommt es vor, dass Ukrainer hier Sozialleistungen beantragen und wieder in ihr Heimatland zurückkehren?
Das Sozialministerium von Baden-Württemberg hat darüber „keine belastbaren Erkenntnisse“. Ähnlich äußert sich das Landesministerium für Wirtschaft und Arbeit: Im Fall der Ukrainer sei „kein erhöhtes Aufkommen von Betrugsfällen im Vergleich zu anderen Bevölkerungsgruppen feststellbar“. Die Jobcenter im Land würden Fälle von möglichem Leistungsmissbrauch „sorgfältig prüfen“ und konsequent anzeigen, was eine präventive Wirkung habe. Aus Sicht beider Ministerien ist es falsch, von finanziellen Anreizen zu sprechen, die Ukrainer nach Deutschland locken würden. Eine klassische Armutsmigration gebe es nicht. „Maßgeblicher Fluchtgrund für die Menschen ist nach wie vor, dass ihr Heimatland derzeit Schauplatz eines Krieges ist.“
Wie gut gelingt die Integration von Ukrainern in Deutschland?
Laut einer aktuellen Studie mehrerer Forschungsinstitute haben fast 20 Prozent der ukrainischen Geflüchteten im arbeitsfähigen Alter hier einen Job gefunden. 74 Prozent würden inzwischen in Privatwohnungen leben. Die Hälfte der erwachsenen Ukrainerinnen und Ukrainer habe einen Sprachkurs besucht. Sechs von zehn ukrainischen Kindern im Alter zwischen drei und sechs Jahren besuchen demnach eine Kita. Große Defizite gibt es allerdings bei der Betreuung von jüngeren Kindern, was vor allem alleinerziehende ukrainische Mütter benachteiligt. Nur drei Prozent von ihnen würden arbeiten, sehr wenige hätten Sprachkurse besucht, so die Studie.
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