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Fürchtet euch nicht

Geheimnisvolle Götterboten: Engel, die himmlischen Bodyguards

Jeder dritte Deutsche glaubt an Engel. Überall kann man sie heute finden: Auf Bettwäsche oder sogar Lebensmitteln. Doch was steckt hinter den persönlichen Leibwächtern mit Heiligenschein?

Ein als Engel verkleidetes kleines Mädchen bläst eine Feder von ihrer Hand in Richtung Kamera
Engel sind omnipräsent - ob in Gestalt eines Mädchens oder auf dem Deckengemälde einer Kirche. Foto: ©Daniel Mock/ Adobe Stock

Fürchtet euch nicht

Wenn Diana Cooper über den Schlüssel zu einer besseren Welt referiert, sind Drachen, Einhörner und Erzengel nicht weit. Die kleine Frau mit dem silberblonden Haar spricht über überirdische Wesen mit einer Selbstverständlichkeit, die selbst esoterisch offenen Menschen einiges abverlangt.

Sie selbst nennt sich Heilerin, mediale Schriftstellerin und ist Englands Instanz in Sachen Engel. Während einer Lebenskrise will sie den Boten aus der geistigen Welt erstmals begegnet sein.

Seitdem sind die Lichtwesen ihre ständigen Begleiter – auch wenn die Digitalfotografien der himmlischen Heerscharen wie ein Sammelsurium von weißen, grauen, teils durchsichtigen Kreisen und Ovalen aussehen.

Lastwagenfahrer glaubt an Engel

Fürchtet euch nicht

Ralf, ein Bär von einem Mann, wirkt nicht so, als würde er an übersinnliche Erscheinungen glauben. Doch wenn er mit seinem 40-Tonner durch Europa brettert, den Termindruck im Nacken verspürt, hat er seinen persönlichen Schutzengel an Bord: ein kleines Flügelwesen, das am Autospiegel baumelt und ihm von der Tochter geschenkt wurde – „damit du immer sicher nach Hause kommst.“

Sollte der himmlische Schutz nicht ausreichen, gibt es ja noch die irdischen Helfer des ADAC. Seit über 60 Jahren sind die Gelben Engel des Automobilclubs unterwegs, im Schnitt rücken sie siebenmal pro Minute aus, um Pannen zu beheben, Unfallstellen abzusichern und Fahrzeuginsassen zu versorgen.

Fürchtet euch nicht

Diese frohe Botschaft verkündet Jahr für Jahr der Weihnachtsengel. Das klingt hoffnungsvoll und ist doch schwer zu glauben, angesichts des desolaten Zustandes der Welt. Würden Maria und Josef heute auf Herbergssuche gehen, sie würden sich in einem Pulk von Heimatlosen wiederfinden.

Die Heiligen Drei Könige würden an Grenzzäune stoßen; der Stern von Bethlehem bliebe angesichts von Luft- und Lichtverschmutzung unentdeckt. Selbst wenn der Engel seinen Weg fände – würde er auch gehört?

Sehnsucht nach spirituellen Wesen

Je seelenloser unser Kosmos zu werden droht, je angsteinflößender die Zukunft wahrgenommen wird, desto größer ist die Sehnsucht nach diesen spirituellen Wesen. Mag der Anteil der Konfessionslosen in der Gesellschaft steigen, mögen Gotteshäuser nur noch zur Christmette voll sein – der große Rauschangriff auf die rationale Welt ist höchst erfolgreich.

Jeder dritte Deutsche glaubt laut einer Umfrage des Instituts für Demoskopie an seinen Engel, der als eine Art persönliche Leibwache fungiert; jeder Zweite gar an Wunder: Einen solchen Wert erzielt nicht mal der liebe Gott, schon gar nicht im glaubensfernen Osten der Republik.

Engel sind allgegenwärtig

Entsprechend omnipräsent sind die hellen Scharen geflügelter Boten in irdischen Gefilden: Pudelnackte Putten-Wonneproppen lächeln mit knabenhafter Koketterie von Bettwäsche und Kaffeetassen.

Simplen Produkten wie Zigaretten, Bier und Gorgonzola-Käse verleihen sie Flügel. Zur letzte Ruhe bettet sich der Deutsche am liebsten unter den Fittichen des göttlichen Sendboten.

Ob dichterische Hochkultur oder die Niederungen trivialer Esoterik – der unsichtbare Gottesknecht hat seinen festen Platz in der Literatur. Der Bestseller des Benediktiners Anselm Grün „50 Engel für das Jahr“ wurde mehr als eine Million Mal verkauft. Im größten Esoterik-Buchladen Deutschlands, dem „Wrage“ in Hamburg, gehen Engelskarten mit Sinnsprüchen für den Tag weg wie warme Semmeln.

Der Engel im Film

Nicht mal die gelegentliche Entzauberung des Mittlers zwischen Gott und Mensch kann seiner religiösen Transzendenz schaden: In Wim Wenders erdenschwerem Drama „Der Himmel über Berlin“ wird die Liebe des Engels Damiel zu einer Trapezkünstlerin so übermächtig, dass er selbst seine Unsterblichkeit zu opfern bereit ist.

Seitdem vergeht kaum ein Jahr, ohne dass ein weiterer Himmelsbote durch die Lichtspielhäuser geistert, je nach Gusto die Gestalt von John Travolta oder Christopher Walken annimmt oder wie Nicolas Cage mit verklärtem Blick über pazifische Weiten späht.

Die Aufklärung entzauberte den Engel

Ziemlich viel Aufmerksamkeit für das Produkt abendländischer Fantasie, das mit der Aufklärung und ihrem Waffengang gegen sichtbare und unsichtbare Geisterreiche überholt schien. Schon Martin Luther, der große Reformator, gestand Engeln nur noch kleine Aufgaben bei der Organisation von Welt und Menschenleben zu – schließlich war der Gottessohn höchstpersönlich in das irdische Jammertal hinabgestiegen.

Calvin zweifelte die Existenz von Schutzengeln an, und die großen Engelskundler des Mittelalters mussten zum Zwecke der Wissenserweiterung auf die Schriften der Apokryphen zurückgreifen, die nicht zum Kanon der Bibel gehören.

Ins dritte Jahrtausend scheint der Brückenbauer zwischen göttlichem Universum und menschlicher Welt nicht zu passen. Und doch verkörpert er auf perfekte Weise die herrschende Denkschule wirtschaftlichen Handelns: Er ist service-orientiert, flexibel und allzeit mobil – eben „semper mobilis“, wie der heilige Johannes von Damaskus im 7. Jahrhundert die geflügelten Vermittler charakterisierte.

Wohltäter im Flügelgewand

„Engel bringt das Gewünschte“ verhieß ein Bild von Paul Klee in den Zwanzigerjahren. Die Wohltäter von heute sind auch fürs Geschäftliche zuständig – gekleidet in feinen Zwirn, statt ins Flügelgewand.

Als finanzkräftige Business-Angel helfen sie klammen Starts-ups auf die Beine: Sie investieren dort, wo Banken und öffentliche Kreditgeber Risiken höher als Renditechancen einschätzen.

Drei Millionen solcher finanzkräftiger Entrepreneure soll es allein in den USA geben, viele getrieben von dem philanthropischen Wunsch, Gutes zu tun. In Deutschland schätzte das Zentrum für europäische Wirtschaftsforschung deren Zahl vor einigen Jahren auf 7 500 – mit steigender Tendenz.

Der Geschichte der Engel

Dass sich die göttlichen Gesandten eines Tages weniger um das ewige Leben, denn um die Ausschüttung im Hier und Jetzt kümmern würden, hätten sich weder der christliche Gelehrte Origines, noch die Mystikerin Hildegard von Bingen, noch der Theologe Thomas von Aquin vorstellen können. Sie alle beschäftigten sich mit diesen von innen strahlenden Wesen.

Deren Ahnen waren schon Assyrern, Babyloniern und Persern bekannt. Die geflügelten Göttergestalten in ägyptischen Königsgräbern, die nymphenhaften Asparas im Hinduismus, die Tempelwächter Mesopotamiens mit ihrer Zwittergestalt, die Fravashis aus dem zoroastrischen Kulturkreis – sie alle sind Teil der weltumspannend agierenden Himmelsboten.

Heiligenschein statt Gefieder

Angesichts der heidnischen Überwesen blieb dem frühen Christentum gar nichts anderes übrig, als sich vom tierischen Gefieder zu verabschieden. Jene drei männlichen Gestalten, die sich mit Stammvater Abraham ein Mahl teilen – zu sehen auf einem Mosaik in San Vitale in Ravenna – sind nur dank des Heiligenscheins als göttliche Gesandten zu erkennen.

Die charakteristischen Schwingen, die des Engels Unabhängigkeit von Raum und Zeit auch einfachen Menschenseelen in dunkler Zeit begreifbar machten, sucht der Betrachter vergeblich. Auf Malereien in Katakomben und Gräbern an der historischen Via Appia präsentieren sich die Helfer des Himmels ihren Adressaten noch von gleich zu gleich: weiße Tunika, Fibeln, Sandalen an den Füßen.

Die Ordnung der dienstbaren Geister

Erst in späteren Jahrhunderten wurde das Flügelpaar zur Grundausstattung der körperlosen Wesen. Ein syrischer Mönch namens Dionysius Aeropagitain versuchte Ordnung in deren verschachtelte Familienbeziehungen zu bringen.

An der Spitze der dienstbaren Geister, die sich um Gott scharen, stehen Cherubim und Seraphim, gefolgt von Thronen, Herrschaften, Mächten, Gewalten bis hinab zum gemeinem Engel.

Dass der Rangniedrigste – gleichsam das einzige Himmelswesen mit Publikumsverkehr – den Spitzenplatz im heute herrschenden Engelskult belegt, darf als kleine Revolte gegen die überlieferte Ordnung der neun Engelchöre betrachtet werden.

Im Bann der überirdischen Geschöpfe

Selbst nüchterne Wissenschaftler stehen im Bann der überirdischen Geschöpfe – wenn nicht metaphysisch, so doch wenigstens metaphorisch. Ob es Engel wirklich gebe, wird der Hildesheimer Theologe Uwe Wolf bei Vorträgen und Seminaren immer wieder gefragt.

Und der Kulturwissenschaftler, der sich seit zwei Jahrzehnten mit den Urbildern der Hoffnung des Vertrauens beschäftigt, antwortet mit vollster Überzeugung: Natürlich gebe es keinen wissenschaftlichen Beweis für die Existenz von Engeln, aber sie seien da als eine natürliche Idee, so wie der Glaube an Freiheit.

Himmlischer Bodyguard

Manchmal brauche es Zeit, den himmlischen Bodyguard als solchen zu erkennen: Als Wolf vier Jahre alt war, riss ihn eine unsichtbare Kraft zur Seite, bevor ein herabfallendes Starkstromkabel seinen Kopf traf. Während seines Studiums der Theologie ließ der Glaube an Ratio keine Gedanken an gute und böse Geister zu. Erst Jahre später habe ihm gedämmert, wer ihm damals das Leben gerettet habe.

Einen Engel erkennt man immer erst, wenn er vorüber gegangen ist.
Uwe Wolf, Theologe

„Einen Engel erkennt man immer erst, wenn er vorüber gegangen ist“, zitiert Wolf den jüdischen Philosophen Martin Buber. Der Wunsch nach einem Seelentröster in der Krise, nach einem spirituellen Geheimagenten mit himmlischer Heilskraft: Er wird in einer zerrissenen, von Terror und Krieg geschundenen Welt so schnell nicht verschwinden.

Die geflügelten Sendboten blicken deshalb nicht nur auf eine eine große Vergangenheit zurück. Ihnen ist auch eine große Zukunft beschieden.

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