Für Wladimir Putin wie für seine Landsleute in Russland und seine Anhänger und Unterstützer im Westen ist die Sache klar: Die USA, die Nato und auch Deutschland haben nicht Wort gehalten, Russland über den Tisch gezogen und einseitig den Macht- und Einflussbereich des Westens zulasten der Sowjetunion beziehungsweise Russlands ausgedehnt.
Im Jahr 1990 hätten sie im Zusammenhang mit dem Fall des Eisernen Vorhangs und dem Ende des Kalten Kriegs der damaligen Sowjetführung mit Kremlchef Michail Gorbatschow und seinem Außenminister Eduard Schewardnadse versprochen, dass sich die Nato nicht nach Osten ausdehnen werde.
Was wurde aus den Zusicherungen unserer westlichen Partner?Wladimir Putin, Präsident Russlands
Doch dieses Versprechen sei mehrfach gebrochen worden. Schon 2007 klagte Putin bei einem Auftritt auf der Münchner Sicherheitskonferenz: „Was wurde aus den Zusicherungen unserer westlichen Partner nach der Auflösung des Warschauer Paktes?“ Und 2014 sprach er vom „Verrat von 1990“, der Westen habe Russland seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion Ende 1991 „viele Male betrogen“.
- Ein Aktenvermerk aus dem Jahr 1991 scheint die These Putins zu belegen
- Gorbatschow stimmte einer freien Bündniswahl Deutschlands zu
- 1990 dachte Gorbatschow sogar an einen Nato-Beitritt der UdSSR
- Nato-Russland-Grundakte garantiert Recht auf freie Bündniswahl
- Der Kosovo-Krieg 1999 stellte eine Zäsur dar
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Auch in der aktuellen Krise um die Ukraine verteidigt Putin die Entsendung russischer Truppen in die Ostukraine mit den legitimen Sicherheitsinteressen seines Landes. Kurz vor Jahreswechsel forderte er in zwei Briefen an die US-Regierung und die Nato das westliche Bündnis auf, seine Truppen auf die Positionen von 1997 zurückzuziehen, das amerikanische Nukleararsenal aus Westeuropa zu entfernen und auf die Errichtung von amerikanischen Militärstützpunkten in früheren Sowjetrepubliken, die nicht der Nato angehören, zu verzichten, wie es 1990 versprochen worden sei.
Ein Aktenvermerk aus dem Jahr 1991 scheint die These Putins zu belegen
Aber gab es dieses Versprechen des Westens wirklich? Ein in diesen Tagen im „Spiegel“ veröffentlichter Vermerk aus dem britischen Nationalarchiv scheint die These Putins und seiner Anhänger zu bestätigen. Demnach sagte bei einem Treffen der politischen Direktoren der Außenministerien der USA, Großbritanniens, Frankreichs und Deutschlands in Bonn am 6. März 1991 der Vertreter der Bundesregierung, Staatsminister Jürgen Chrobog: „Wir haben in den Zwei-plus-vier-Verhandlungen deutlich gemacht, dass wir die Nato nicht über die Elbe hinaus ausdehnen. Wir können daher Polen und den anderen keine Nato-Mitgliedschaft anbieten.“
Schon am 9. Februar 1990 hatte der damalige US-Außenminister James Baker in einem Sondierungsgespräch mit Kremlchef Gorbatschow mit Blick auf eine mögliche Wiedervereinigung Deutschlands versprochen, die Nato werde sich „nicht um einen Zoll in östliche Richtung“ ausdehnen.
Gorbatschow stimmte einer freien Bündniswahl Deutschlands zu
Diese Aussage, die in einem internen Sondierungsgespräch mit der Sowjetführung fiel, bezog sich allerdings ausschließlich auf Deutschland und die Modalitäten einer möglichen Wiedervereinigung. Zu diesem Zeitpunkt lehnte die UdSSR noch eine Nato-Mitgliedschaft eines wiedervereinigten Deutschlands ab und forderte Blockfreiheit. Die Zusage Bakers sollte sowjetische Ängste abbauen. Beim legendären Treffen von Bundeskanzler Helmut Kohl und Michail Gorbatschow im Kaukasus am 16. Juli 1990 gab der Kremlchef seinen Widerstand auf und stimmte einer freien Bündniswahl Deutschlands zu.
In den Zwei-plus-vier-Verhandlungen einigten sich die beiden deutschen Staaten und die vier Siegermächte schließlich darauf, dass auf dem Gebiet der DDR keine Nato-Truppen und keine amerikanischen Atomwaffen stationiert werden sollten. Deutschland erhielt seine volle Souveränität zurück, 1994 zogen die vier Siegermächte ihre in Berlin und auf dem Gebiet der DDR stationierten Truppen ab.
Die Frage stellte sich damals nicht.Michail Gorbatschow, ehemaliger Kremlchef
Eine Osterweiterung der Nato stand zu diesem Zeitpunkt überhaupt nicht zur Debatte. Noch bestanden die Sowjetunion und der Warschauer Pakt, dass beide sich auflösen würden, war weder vorstell- noch absehbar. Gorbatschow selber bestätigte mehrfach, in den Verhandlungen sei es ausschließlich um Deutschland gegangen, eine mögliche Osterweiterung der Nato sei niemals Thema der Gespräche gewesen. „Der Warschauer Pakt existierte doch noch. Die Frage stellte sich damals gar nicht.“
Eine schriftlich fixierte und somit völkerrechtlich verbindliche Vereinbarung, in der die Nato-Mitgliedsstaaten eine Erweiterung des westlichen Bündnisses ausschließen, gab es nicht – und gibt es nicht. Auch die internen Äußerungen Chrobogs auf Beamtenebene wurden nie zu einer offiziellen Regierungsposition. Im Gegenteil, sowohl die Regierung Kohl als auch die Regierung Schröder unterstützten aktiv den Beitritt der mittel- und osteuropäischen Staaten in die EU und in die Nato.
1990 dachte Gorbatschow sogar an einen Nato-Beitritt der UdSSR
1990 war die Stimmung noch vom Geist der Zusammenarbeit geprägt. Gorbatschow zeigte sich offen für die Idee einer gesamteuropäischen Sicherheitsarchitektur unter Führung der Nato und brachte im Mai 1990 gar eine Nato-Mitgliedschaft der UdSSR ins Spiel.
Die geopolitische Situation änderte sich allerdings grundlegend mit dem Untergang der UdSSR Ende 1991 und der Auflösung des Warschauer Paktes. Die nun bündnislosen Staaten Mittel- und Osteuropas sowie die nunmehr selbständigen früheren Sowjetrepubliken einschließlich der Russischen Föderation, die sich zur „Gemeinschaft Unabhängiger Staaten“ zusammenschlossen, suchten von sich aus die Zusammenarbeit mit der Nato wie mit der EU.
1994 wurde die Russische Föderation Mitglied des Nato-Programms „Partnerschaft für den Frieden“ („Partnership für peace“), in der die Nato und 20 europäische sowie asiatische Länder ihre Zusammenarbeit auf eine vertragliche Grundlage stellten.
Nato-Russland-Grundakte garantiert Recht auf freie Bündniswahl
Drei Jahre später, am 27. Mai 1997, unterzeichneten die Nato und Russland die sogenannte Nato-Russland-Grundakte „über gegenseitige Beziehungen, Zusammenarbeit und Sicherheit“. Darin erklärten beide Seiten ihren „Verzicht auf die Androhung oder Anwendung von Gewalt gegeneinander oder gegen irgendeinen anderen Staat“, zudem versicherten sie, die Souveränität aller Staaten sowie deren Selbstbestimmungsrecht zu achten. Das schloss aus westlicher Sicht auch das Recht der freien Bündniswahl ein.
In einer Radioansprache an das russische Volk behauptete hingegen Präsident Boris Jelzin, der Vertrag befestige das Versprechen der Nato, „weder ihre Streitkräfte in der Nähe unserer Grenzen aufzubauen (…) noch Vorbereitungen für eine relevante Infrastruktur zu treffen“. Das aber war eine falsche Darstellung und eine Verdrehung des Vertragsinhalts.
1999 traten Polen, Tschechien und Ungarn der Nato bei, 2004 Bulgarien, Estland, Lettland, Litauen, Rumänien, die Slowakei und Slowenien, 2009 Albanien und Kroatien, 2017 Montenegro und schließlich 2020 Nordmazedonien. Der von den USA unterstützte Wunsch Georgiens und der Ukraine, in das Bündnis aufgenommen zu werden, liegt dagegen wegen des Widerstandes der europäischen Staaten auf Eis, zuletzt bekräftigte Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD), dass eine Mitgliedschaft der Ukraine nicht zur Debatte stehe.
Der Kosovo-Krieg 1999 stellte eine Zäsur dar
Zu einer dramatischen Verschlechterung des Verhältnisses zwischen Russland und dem Westen trug der Kosovo-Krieg 1999 bei. Mit der Begründung, es gelte im Kosovo „einen Genozid“ der albanischen Bevölkerungsmehrheit durch serbische Kämpfer zu verhindern, bombardierten Nato-Verbände Serbien, Bomben fielen unter anderem auf die Hauptstadt Belgrad, Novi Sad und Nis. Auch die Bundeswehr beteiligte sich an dem Krieg, ohne dass es dafür ein UN-Mandat gab.
Nun ist es der russische Präsident Wladimir Putin, der mit Blick auf die russische Minderheit in den ukrainischen Regionen Luhansk und Donezk davon spricht, dass dort „ein Genozid“ stattfinde und damit die Entsendung russischer Truppen rechtfertigt.
Unser Redaktionsmitglied Martin Ferber hat als Berlin-Korrespondent das Ende des Kalten Krieges, die Debatten um die Ausgestaltung der Wiedervereinigung und die Zwei-plus-vier-Verhandlungen im Jahr 1990 aus nächster Nähe erlebt.