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Roman „Das mangelnde Licht“

Lesung in Karlsruhe: Nino Haratischwili und ihr bestürzend aktuelles Epos über Freundschaft in blutigen Umbruchszeiten

Wie in ihrem Erfolg „Das achte Leben“ blickt die Autorin Nino Haratischwili auch in ihrem neuen Roman „Das mangelnde Licht“ auf die Geschichte zurück. Doch durch den Krieg in der Ukraine wirkt das Buch, aus dem sie nun in Karlsruhe las, bestürzend aktuell.

08.10.2018, Hessen, Frankfurt/Main: Die Autorin Nino Haratischwili blickt vor der Verleihung des Deutschen Buchpreises 2018 im Rathaus Römer in die Kamera. Zum 14. Mal vergibt der Börsenverein des Deutschen Buchhandels die Auszeichnung für den besten deutschsprachigen Roman des Jahres. Foto: Arne Dedert/dpa +++ dpa-Bildfunk +++
Autorin mit großem erzählerischem Atem: Nino Haratischwili blickt in ihrem neuen Roman auf die dramatischen Umbrüche im Georgien der 1990er-Jahre. Foto: Arne Dedert/dpa

Was für ein Timing: Ein neuer Roman erscheint und schon einen Tag später spielt ein großes Theater die Bühnenadaption.

So ist es geschehen Ende Februar mit dem neuen Werk der deutsch-georgischen Autorin Nino Haratischwili.

Doch die große Nähe der Präsentation ihres fünften Romans „Das mangelnde Licht“ zur Uraufführung am Thalia Theater Hamburg war reiner Zufall: Die eigentlich für Herbst 2021 geplante Buchveröffentlichung war wegen Corona verschoben worden, wie die Autorin nun bei einer Lesung in Karlsruhe erklärte.

Buch erschien einen Tag nach Kriegsbeginn

Diese Verschiebung ergab allerdings noch ein ganz anderes Timing. Denn einen Tag vor der tatsächlichen Buchveröffentlichung begann der russische Angriffskrieg in der Ukraine. Das gab dem Roman eine bestürzende Aktualität.

Denn auch wenn Haratischwili bei ihrer Lesung keine der wirklich dramatischen und traumatischen Szenen ihres Romans auswählte, vermittelte sie eindrucksvoll, wie Erzählungen über die Vergangenheit die Gegenwart erhellen können.

Wobei „erhellen“ in diesem Fall nicht als „aufhellen“ zu verstehen ist. Vielmehr schärft „Das mangelnde Licht“ den Blick auf die Düsternis, die sich derzeit in der Ukraine ausbreitet. Und es legt durchaus düstere Zukunftsprognosen hinsichtlich dieser Krise nahe.

Buchcover zu Nino Haratischwili: Das mangelnde Licht. Frankfurter Verlagsanstalt. 832 Seiten, 34 Euro.
Nino Haratischwili: Das mangelnde Licht. Frankfurter Verlagsanstalt. 832 Seiten, 34 Euro. Foto: FVA

Bestürzend aktuell trotz Handlung in den 1990er Jahren

Als Haratischwili vor gut drei Jahren mit der Arbeit an dem Buch begann, war diese Gegenwärtigkeit nicht abzusehen. Formal ist „Das mangelnde Licht“ ein Rückblick auf die Vergangenheit.

Die Handlung spielt vorwiegend im Georgien der 1990er Jahre, das seit der Unabhängigkeitserklärung 1991 von politischen Unruhen, Bürgerkriegen, Gewalt und Korruption erschüttert wurde.

Schon als Schülerin schrieb sie deutschsprachige Stücke

Sie habe die Prägung ihrer eigenen Biografie verstehen wollen, so die 38-Jährige im Gespräch mit dem Publikum der Lesung. Kulturell seien westliche Einflüsse für sie immer selbstverständlich gewesen: Bereits als Schülerin hatte Haratischwili in ihrer Heimatstadt Tiflis eine deutsch-georgische Theatergruppe gegründet und hierfür Stücke geschrieben.

„Aber erst als ich 2003 für ein Regiestudium nach Hamburg kam, wurde mir bewusst, dass meine Jugend völlig anders verlaufen war als die der Gleichaltrigen, denen ich in Deutschland begegnete“, sagte sie im Publikumsgespräch.

Werke mit enormen Seitenzahlen

Ihre Lesung bei der Literarischen Gesellschaft im Prinz-Max-Palais war schon Tage im Voraus ausverkauft. Kein Wunder: Spätestens seit ihrem Epos „Das achte Leben (Für Brilka)“ von 2014, das auf knapp 1.300 Seiten anhand von sechs Generationen einer Familie die Geschichte Georgiens im 20. Jahrhundert ausbreitete, gilt Haratischwili als Erfolgsautorin.

„Das mangelnde Licht“, mit rund 830 Seiten ebenfalls ein wuchtiges Werk, wurde in der „FAZ“ bereits bezeichnet als „Roman, der nach dem Deutschen Buchpreis geradezu schreit“.

Um den bedrückenden Zuständen jener Zeit in ihrem Roman etwas Schönes gegenüberzustellen, habe sie beschlossen, die Geschichte einer Freundschaft zu erzählen. Und bei ihrer Lesung in Karlsruhe wählte Haratischwili Passagen aus den ersten Kapiteln, um „in den aktuell schwierigen und hässlichen Zeiten“ den Blick auf schöne Erinnerungen zu lenken.

Momente der Freiheit und lebenspraller Humor

So wurde das Publikum mitgenommen auf ein Abenteuer der vier Hauptfiguren, die als junge Mädchen abends verbotenerweise in einen Park eindringen und dabei kostbare Momente der Freiheit erleben.

Und auch die Schilderungen der bunt gemischten Zusammenstellung von Familien in den Wohnungen um einen gemeinsamen Hof, die einen „kleinen Staat im Staat“ bilden, sind von lebensprallem Humor geprägt.

Das aber macht nur umso deutlicher, was verloren geht, als jene Zeit anbricht, die von Dunkelheit und Kälte geprägt ist – nicht nur, aber auch im wörtlichen Sinn aufgrund ständiger Stromausfälle. In einer zentralen Szene des Buches, die sich auch in der Covergestaltung niedergeschlagen hat, beschreibt die Ich-Erzählerin Keto ein Mädchen, das in einem Skianzug auf der obersten Sprosse einer Leiter sitzt – dort, wo die Luft am wärmsten ist. Beziehungsweise am wenigsten kalt.

Das Mädchen lernt Deutsch, anhand von Hölderlin-Gedichten. Ein eindrückliches Bild von der Hoffnung, die Flucht in die Literatur geben kann. Und gleichzeitig ein Bild der Aussichtslosigkeit. Denn von jener obersten Sprosse aus geht es nicht mehr weiter. Und unten steht die Erzählerin in einem Leben der „Bitterkeit über die Freiheit, die nichts gebracht hat außer Kälte“.

Bald zeichnet es sich ab: Das Schöne, von dem Haratischwili mit der Freundschaft der vier Mädchen erzählt, steigert letztlich nur die Fallhöhe. Die Rahmenhandlung des Romans spielt 2019 in Brüssel, als sich die drei Überlebenden des einstigen Quartetts bei einer Fotoausstellung wieder begegnen und sich dem schmerzhaften Ende ihrer Freundschaft stellen müssen.

Lebenslanger Nachhall von tragischen Momenten

Es ist aufwühlend genug, wie der Roman den lebenslangen Nachhall von erlittenem Leid und tragischen Entscheidungsmomenten nachzeichnet.

Doch noch bestürzender ist, dass die bis vor kurzem noch gültige Gegenwart der 2019 spielenden Rahmenhandlung, in der ein Blick auf solche Erfahrungen in die Vergangenheit führte, nun selbst zur vergangenen Epoche zu werden droht – und die Vergangenheit der Schrecken aus den 1990er Jahren als Gegenwart zurückkehrt.

Service

Nino Haratischwili: Das mangelnde Licht. Frankfurter Verlagsanstalt. 832 Seiten, 34 Euro.

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