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Nur einen Klick entfernt

Wenn jede Sekunde zählt: Lebensretter-App sucht den nächsten Ersthelfer

Im Kampf ums Überleben zählt jede Sekunde. Doch bis der Notarzt kommt, verrinnen wertvolle Minuten. Eine regional vernetzte App lokalisiert den nächsten Helfer und schickt ihn direkt zum Patienten. So kann er helfen, noch bevor der Notarzt eintrifft.

Der Gebrauch von Datenroaming ist vom Sommer 2016 bis zum Sommer 2019 um das 17-fache gestiegen.
Sobald der Notruf bei der Rettungsleitstelle eingeht, wird der Notarzt informiert. Gleichzeitig erhält die Lebensretter-App die Koordinaten und kann in kürzester Zeit selbsttätig die registrierten Helfer in der Nähe suchen. Foto: Sebastian Gollnow/dpa

Rund um die Hornisgrinde ist der Schwarzwald wunderschön - aber er hat ein Problem: Enge und kurvige Straßen erschweren die Anfahrt. Vor allem für den Notarzt, der sich mühsam in die Höhe schrauben muss. Währenddessen läuft die Lebensuhr des Wanderers, dessen Herz auf einem einsamen Wanderweg in der Nähe des Mummelsees aufgegeben hat, unaufhaltsam ab.

Die Uhr tickt, denn ohne den Sauerstoff, den das Herz mit dem Blut ins Gehirn pumpt, kann die Zentrale im Kopf nicht arbeiten. Sie schaltet ab und schon nach drei bis fünf Minuten kommt jede Hilfe zu spät.

Dabei wäre die Rettung doch vielleicht ganz nah: Ein Krankenpfleger, der keine 200 Meter Luftlinie entfernt, auf dem See gerade ein Tretboot mieten will. Eine Rettungsassistentin, die mit ihrer Motorradgruppe just in diesem Moment die B500 entlang braust. Die beiden wüssten genau, was jetzt zu tun ist und vermutlich könnten sie das Leben des Wanderers retten. Sie müssten nur wissen, dass er ganz in der Nähe ist.

Die „Region der Lebensretter“ sammelt Helfer

Für genau diese Situation wurde 2017 in Freiburg der Verein „Region der Lebensretter“ gegründet. Wer in den Maßnahmen der Wiederbelebung geschult ist, aber nicht Bestandteil der Alarmierungskette bei Notfällen ist, kann sich als Ersthelfer registrieren lassen: Ärztinnen, Pflegepersonal, Rettungsdienstmitarbeiter, die gerade frei haben oder Mitglieder von Hilfsorganisationen.

Voraussetzung ist eine rettungsdienstliche Qualifikation, mindestens als „Sanitätshelfer“. Wenn diese geschulten Ersthelfer oder professionelle Helferinnen bei einem Herz-Kreislaufstillstand erreichbar und alarmierbar sind, könnten - so hoffen wenigstens die Macher der „Region der Lebensretter“ - mehrere Hundert Leben in Deutschland jährlich gerettet werden.

Unser Ziel muss sein, das reanimationsfreie Intervall auf ein Minimum zu verkürzen.
Philipp Diehl, Chefarzt bei den Ortenau-Kliniken

„Unser Ziel muss sein, das reanimationsfreie Intervall auf ein Minimum zu verkürzen“, erklärt Philipp Diehl, Chefarzt der Abteilung für Kardiologie, Pneumologie, Angiologie, Akutgeriatrie und Intensivmedizin der Ortenau-Kliniken. Der Herzspezialist und Intensivmediziner hat für den Verein die Koordinierung der Notfall-App im Ortenaukreis übernommen.

Philipp Diehl, Chefarzt am Ortenau Klinikum
Philipp Diehl, Chefarzt am Ortenau Klinikum Foto: Ortenau Klinikum

Bevor der flächengrößte Landkreis in Baden-Württemberg ab September ans Netz geht, kümmert er sich um die Organisation. Dazu gehört in erster Linie die Rekrutierung von Ersthelfern - jenen Menschen also, die allzeit bereit sind, ein Leben zu retten. Der Verein ist aber auch noch dabei, die vor allem in der Pandemie notwendige Schutzausrüstung für die Ersthelfer zu beschaffen.

Lebensretter-App verständigt die Helfer in der unmittelbaren Umgebung

Die Funktionsweise der App ist schnell erklärt: Sobald der Notruf bei der Rettungsleitstelle eingeht, wird der Notarzt informiert. Gleichzeitig erhält die App die Koordinaten und kann in kürzester Zeit selbsttätig die registrierten Helfer in der Nähe suchen. Die werden sofort verständigt und müssen bestätigen, wenn sie sich auf den Weg machen.

Wenn alles optimal läuft, treffen innerhalb kürzester Zeit vier Menschen bei dem Verunglückten ein. Zwei wechseln sich mit der Herzdruckmassage ab, einer bringt einen Defibrillator mit und der Vierte passt den Krankenwagen ab und führt ihn zum Patienten.

Philipp Diehl ist überzeugt, dass mit der App die Chancen für Menschen mit einem Herz-Kreislauf-Stillstand erhöht werden können. Bisher ist das Überleben eines solchen Vorfalls noch eher Glückssache. Nur zehn bis 15 Prozent können bisher gerettet werden. „Wir hoffen, dass wir mit der App diese Zahl mindestens verdoppeln können“, sagt Diehl.

Plötzlicher Herzstillstand: Nur zehn bis 15 Prozent kommen durch

Ein Problem sei bislang die Reanimationsversorgung. „Die ist bei uns in Deutschland relativ schlecht“, erklärt Diehl. „Der Notarzt braucht vergleichsweise lange, bis er vor Ort ist. Das kann im Falle eines Herz-Kreislauf-Stillstands zu schlecht sein“, weiß der Spezialist. Die Überlebenschancen eines Patienten könnten sich um 50 Prozent erhöhen, wenn die Wiederbelebung in den ersten vier Minuten erfolgt.

Doch auch um die Hilfsbereitschaft von Passanten, die Zeuge eines Notfalls werden, ist es hierzulande nicht gut bestellt. Obwohl wenigstens jeder Führerscheininhaber aus dem vorgeschriebenen Erste-Hilfe-Kurs wissen müsste, was bei einem Herzstillstand zu tun ist, trauen sich nur wenige, auch zuzupacken. Die Auswertung der Einsatzprotokolle von Rettungsdiensten zeigt, dass nur in 40,4 Prozent der Fälle ein Laie helfend ins Geschehen eingriff.

Der einzige Fehler ist, nichts zu machen.
Philipp Diehl, Kardiologe am Ortenau-Klinikum

In Ländern wie Skandinavien, wo Erste-Hilfe-Kurse fester Bestandteil des Schulunterrichts sind, sieht das anders aus. „Wir müssten erreichen, dass jeder Mensch auf einen anderen zugeht, wenn er sieht, dass es dem anderen schlecht geht“, sagt Philipp Diehl. Doch viele scheuten sich davor. Häufig aus Angst, etwas falsch zu machen. „Dabei ist der einzige Fehler, nichts zu machen.“

Vielleicht ist der Nachbar Krankenpfleger?

Die „Region der Lebensretter“ versucht, diese Lücke zu füllen. Dass der Ortenaukreis nun bald auch ein aktiver Teil des Vereins sein wird, hält Diehl für einen wichtigen Schritt. Gerade in den Schwarzwald-Tälern und auf den Höhen sei es gut, über ein Netzwerk von Helfern zu verfügen. Je engmaschiger desto besser.

„Wenn Sie an einem Samstagvormittag in einer belebten Fußgängerzone einen Herzinfarkt erleiden, ist die Chance, dass jemand hilft, groß. Aber was ist, wenn Sie irgendwo abgelegen auf dem Land wohnen? Wäre es da nicht gut, wenn der Nachbar drei Häuser weiter, der zufällig auch noch Krankenpfleger ist, wüsste, dass Sie Hilfe brauchen?“

Seit dem Ende des Pilotbetriebs 2020 wächst die Zahl der Lebensretter-Regionen im Land stetig. Elf Stadt- und Landkreise sind bereits dabei. Über 1.400 Ersthelferinnen und -helfer sind registriert. Wie häufig und ob überhaupt ein eingetragener Retter tatsächlich mal einen Notruf erhält, ist schwer zu sagen. Aber wenn es passiert und ein Mensch weiterleben kann, hat es sich schon gelohnt. Deshalb ist Philipp Diehl von der Idee auch so angetan. „Man kann da mit ganz wenig viel erreichen“, sagt er.

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