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Ein Koffer voller Hoffnung

Geschichten aus dem Einwanderungsland Baden-Württemberg

Das Ländle hat seit dem zweiten Weltkrieg immer wieder Einwanderungswellen erfahren. Dabei ist jedoch nicht die jüngste „Flüchtlingskrise“ dafür verantwortlich, dass ein Drittel der Baden-Württemberger einen Migrationshintergrund haben.

Menschen auf dem Bahnsteig und Menschen, die aus dem Fenster eines Zuges schauen
Abfahrt am Karlsruher Bahnhof in Richtung Heimat: Jugoslawische „Gastarbeiter“ fahren am 17. Dezember 1976 mit einem Sonderzug in den Weihnachtsurlaub. Foto: Schlesinger/Stadtarchiv Karlsruhe

Zunächst machte sich Don Battista Mutti mit dem Motorrad auf den Weg. Später fuhr er mit einem Fiat 500 Topolino durch Baden-Württemberg. Von Stuttgart aus betreute der italienische Priester in den 1950er Jahren seine Landsleute. Sie arbeiteten in Mannheim, in Karlsruhe oder in Todtmoos im Hochschwarzwald. Deutsch sprach kaum einer der Gastarbeiter, unter Heimweh litten sie alle.

Zusammen mit einem Vertreter des Arbeitsamts besuchte der junge Priester auch einen Landwirt bei Künzelsau – „wie üblich wegen Schwierigkeiten mit einem Italiener“. Gleich am Anfang kam das Gespräch auf die Verpflegung.

Der Fremdarbeiter bekomme „das Beste, was wir haben“, versicherte der Bauer: „Blutwurst und Kraut“. – „Oh heidenei!“, riefen die Besucher aus Stuttgart: „Spaghetti müssen Sie machen. Spaghetti!“. Darauf der Landwirt: „Spaghetti kenne ich nicht. Aber schicken Sie mir ein Pfund Samen, ich werde sie anbauen.“

„Bitte sofort fünf Stück Hilfsarbeiter“

Diese Anekdote aus den frühen Gastarbeiter-Jahren – sie scheint aus einer anderen Welt zu stammen. Schließlich ist die Integration in kaum einem anderen Bereich so überzeugend gelungen wie im Kulinarischen. In ihrem Buch „Ein Koffer voll Hoffnung“ erzählen Karl-Heinz Meier-Braun und Reinhold Weber noch viele andere wahre Geschichten aus dem Einwanderungsland Baden-Württemberg.

Über manche kann man heute nur den Kopf schütteln. Da geht es etwa um eine 1970 in der Ulmer Südwestpresse erschienene Anzeige. Sie preist ein Bauernhaus an mit den Worten: „Beste Gelegenheit für Pferdehaltung oder Gastarbeiterunterkunft“. Da ist das Unternehmen aus dem Ländle, das an die Anwerber in Griechenland die Bestellung abschickt; „Bitte sofort fünf Stück Hilfsarbeiter“.

Andere Sprüche, die Meier-Braun und Weber zitieren, könnten – wenn auch in etwas abgewandelter Form und wohl mit einer anderen Zielrichtung – heute ähnlich fallen.

Da heißt es beispielsweise: „Der Südländer ist von seiner Heimat her Zurückhaltung bei den Frauen gewohnt. Kommt ihm im Gastland eine Frau offener entgegen, meint er, sie habe kein Ehrgefühl, und er dürfe sich etwas herausnehmen“. Das Zitat stammt aus den „Goldenen Regeln für den Umgang mit Gastarbeitern“. Veröffentlicht hat sie die Akademie der Diözese Rottenburg im Jahr 1962.

„Ein Koffer voll Hoffnung“

Baden-Württemberg, „ein Einwanderungsland“? Der Untertitel des Buches „Ein Koffer voll Hoffnung“, der eben dies behauptet, hätte zumindest bis Anfang der 1980er Jahre wohl heftige Diskussionen ausgelöst. Eine „gelebte Willkommenskultur“ habe es im Südwesten schon immer gegeben, sagen die Autoren.

Daneben aber stets auch – wie in anderen Ländern – Skepsis und Ablehnung gegenüber Zuwanderern. 1973 titelte wegen des „Andrangs aus Anatolien“ etwa der „Spiegel“, nicht gerade als rechtes Hetzblatt bekannt: „Die Türken kommen – rette sich wer kann“.

Angesichts solcher Stimmungen wundert es wenig, dass fast ein halbes Jahrhundert lang „Wir sind kein Einwanderungsland“ das Mantra der deutschen Politik war. Als „Lebenslüge“ bezeichnen dies die Migrationsexperten Meier-Braun und Weber – die Fehler von damals rächen sich ihrer Meinung nach bis heute.

Dabei hätten sich viele Arbeitgeber schon früh gegen das Rotationsprinzip gesträubt. Gerade in Branchen, in denen händeringend Leute gesucht wurden, wollten sie gut eingearbeitete Ausländer nicht wieder verlieren – wie heute auch.

Debatten über Migration gab es in Baden-Württemberg schon immer

Lange glaubte die Politik, die Arbeitsmigration steuern zu können – nach den Bedürfnissen der Wirtschaft, versteht sich. Bei Flüchtlingsbewegungen sieht das anders aus. Beschleunigung der Verfahren, Bekämpfung von Schlepperbanden, Abschreckungsmaßnahmen – man kennt die Forderungen.

Der baden-württembergische Sozialminister beklagt: „Einer Springflut gleich sind Flüchtlinge in den letzten Monaten in unser Land gedrängt“. Das Landesinnenministerium wirft dem Bundesinnenminister vor, Flüchtlinge mit „zum Teil gefälschten Pässen ohne weitere Nachprüfung“ einreisen zu lassen.

Und der Ministerpräsident warnt, die Zustände konnten „zu einer Ausländerfeindlichkeit“ führen. Aber Achtung: Diese Aussagen stammen keineswegs aus den Jahren 2015 oder 2016, als die Fluchtbewegungen nach Deutschland auf dem Höhepunkt waren.

Sondern aus den Jahren 1979/1980, als die Zahl von Asylbewerbern aus der „Dritten Welt“ und aus Staaten mit autoritären Regimen in die Höhe schnellte. Ähnliche Debatten gab es Anfang der 1990er Jahre, als unter anderem Bürgerkriegsflüchtlinge aus dem zerfallenden Jugoslawien ins Land drängten.

Ein Drittel der Baden-Württemberger haben Migrationshintergrund

Heute hat fast ein Drittel der Menschen in Baden-Württemberg einen Migrationshintergrund. „Mit Stolz“, so meinen Meier-Braun und Weber, könnten die Leute im Südwesten sagen: „Wir haben das schon öfter geschafft“. Vor der „sogenannten Flüchtlingskrise 2015“ sei Baden-Württemberg auf einem „guten Integrationskurs“ gewesen.

An diesen gelte es nun, da die Flüchtlingszahlen zurückgegangen sind, wieder anzuknüpfen. Denn alles in allem sei die Zuwanderung ins südwestliche Deutschland eine Erfolgsgeschichte. Und das nicht nur wegen des Siegeszugs der Spaghetti.

Buchtipp

„Ein Koffer voll Hoffnung“: In dem Buch blicken Karl-Heinz Meier-Braun und Reinhold Weber auf die Geschichte des Einwanderungslandes Baden-Württemberg. Anlass ist die „sogenannte Flüchtlingskrise“, deren Folgen Deutschland seit 2015 in Atem halten. Sie hat, so die Autoren, vieles von dem, was an Positivem zum Thema Integration zu vermelden ist, in den Hintergrund gedrängt. „Wie in einem Brennglas bündeln sich im deutschen Südwesten die unterschiedlichen Zuwanderungsbewegungen der Geschichte seit 1945“, sagt Weber. Das Buch beleuchtet anhand vieler Beispiele den Komplex Flucht, Vertreibung und Asyl. Einen weiteren Schwerpunkt bildet die Arbeitsmigration seit dem 19. Jahrhundert. Abschließend gehen die Autoren auf die Erfolge, aber auch die Probleme der Integration ein. Mit „Ein Koffer voller Hoffnung“ haben die zwei Professoren ein für ein breites Publikum gut lesbares Buch vorgelegt – und einen topaktuellen Beitrag zur Migrationsdebatte.

Die Autoren: Karl-Heinz Meier-Braun ist Journalist und Politikwissenschaftler, Reinhold Weber Zeithistoriker und Abteilungsleiter bei der Landeszentrale für politische Bildung. Beide beschäftigen sich seit Jahren mit Wanderungsbewegungen. Ihre zentrale Erkenntnis: Migration stellt nicht die Ausnahmesituation in der Geschichte dar, sondern den Normalfall.

Karl-Heinz Meier-Braun und Reinhold Weber, Ein Koffer voll Hoffnung. Das Einwanderungsland Baden-Württemberg, Silberburg-Verlag, 192 Seiten, 24,99 Euro.

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