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Schnupfen im Corona-Sommer

Kein Kita-Besuch mit Rotznase - Kinderarzt: „Im Herbst werden wir zusammenbrechen”

Der „Regelbetrieb” in Kindergärten läuft noch nicht einmal rund, da sitzen manche Knirpse schon wieder zu Hause – weil sie einen leichten Schnupfen haben. Das Land verspricht klarere Richtlinien.

Kinderärztin untersucht kleines Mädchen, das den Mund geöffnet hat.
Nur eine kleine Erkältung – oder Anzeichen für eine ernsthafte Infektion? Diese Frage treibt Eltern schon jetzt im Sommer um und beschert Kinderärzten jede Menge Arbeit. Foto: gpointstudio imago/Westend61

Dass sie einmal vor einem Zweijährigen sitzen und mit fast wissenschaftlicher Akribie seine Rotznase untersuchen würde – das hätte sich Annika (34) nicht träumen lassen. „Aber entscheidend ist die Frage: Ist der Schleim klar oder gelblich?“, erklärt die junge Mutter. „Wenn er auch nur leicht verfärbt ist, nimmt die Kita den Kleinen nicht.“

Solche Unterscheidungen macht der Karlsruher Kindergarten, den die beiden Kleinkinder von Stefanie (32) besuchen, in Zeiten der Corona-Pandemie erst gar nicht.

„Wir wurden schon wieder angerufen, dass wir die Kinder abholen sollen, weil bei einem von ihnen die Nase läuft“, erzählt die berufstätige Mutter genervt. „Sie sind zurzeit im Wechsel eine Woche in der Kita und eine Woche daheim. Dabei sind beide Jungs fit und munter. Und ein winziger Schnupfen allein ist ja kein Grund, von einer Corona-Infektion auszugehen.“

Die Nase läuft – das Betreuungsgerüst stürzt ein

So ähnlich sehen das auch Kultusministerin Susanne Eisenmann (CDU) und Sozialminister Manfred Lucha (Grüne). Sie haben angekündigt, möglichst bald eine präzisere Handreichung für Eltern, Kitas und Schulen herauszugeben. Doch aktuell geht es vielen Eltern so wie Stefanie: Kaum laufen die Kindertagesstätten wieder einigermaßen im an, da bringt der Sommerschnupfen das fragile Betreuungsgerüst schon wieder zum Einsturz.

Die Nerven sind angespannt – deshalb wollen die Mütter auch nicht ihren vollen Namen in der Zeitung lesen. Mit den Erzieherinnen ihrer Kinder möchten sie es sich keinesfalls verscherzen. Aber auch bei Letzteren ist die Verunsicherung groß: Niemand will riskieren, dass die eigene Einrichtung zum Corona-Brennpunkt wird.

Kinderarzt Till Reckert bezahlt das mit Überstunden. „Meine Praxis fühlt sich schon jetzt an wie im Winter – ich kläre ständig Schnüpfchen ab“, sagt der baden-württembergische Sprecher des Berufsverbands der Kinder- und Jugendärzte (BVKJ). „Im Herbst werden wir zusammenbrechen.“

Tun Sie sich mit anderen Familien zusammen, damit Sie im Winter ihre Kinder wechselseitig betreuen können.
Till Reckert / Landessprecher des Berufsverbandes der Kinder- und Jugendärzte

Reckert gibt jungen Eltern bereits im heißen Juli den dringenden Rat: „Tun Sie sich mit anderen Familien zusammen, damit Sie im Winterhalbjahr ihre Kinder wechselseitig betreuen können. Die Kindergartenkinder werden die meiste Zeit zu Hause sein.“

Es sei normal, dass in dieser Zeit immer etwa ein Fünftel der Kinder erkältet ist. In der Pandemie werden die Kinderkrankengeldtage hinten und vorne nicht ausreichen, prophezeit der Kinderarzt.

Forderung: Kinderkrankengeld auf 30 Tage erhöhen

Maximal zehn Tage lang kann sich jedes Elternteil pro Kind freistellen lassen, wenn der Nachwuchs krank ist. „Dieser Anspruch müsste in der Pandemie verdreifacht werden“, sagt Reckert. Das wären dann 30 Pflegetage für Mami und Papi auf Kassenkosten. Die Forderung hat der Kinderärzte-Sprecher auch an die Adresse von Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) geschickt.

In die Kita oder zuhause bleiben? Da meinen Eisenmann und Lucha: „Ein Schnupfen ohne weitere Krankheitszeichen ist noch kein grundsätzlicher Ausschlussgrund für einen Kita- oder Schulbesuch.“ Und Reckert fügt hinzu: „Aber bei Husten, Fieber, Halsweh sollen die Kinder zu Hause bleiben.“

In seine Reutlinger Praxis kämen jetzt häufiger Eltern, die sich dafür entschuldigen, dass sie wegen einer Kleinigkeit vorstellig werden – aber die Schule oder Kita poche halt auf ein ärztliches Attest für die kleinen Rotznasen.

Kind strampelt und schreit beim Corona-Test

Einzelne Väter und Mütter verlangten sogar nachdrücklich einen Corona-Test für den Nachwuchs. „Das geht bei Kindern völlig an der Realität vorbei“, sagt Reckert. „Da braucht man einen tiefen Nasenabstrich. Man muss das Kind festhalten, es strampelt und schreit.“

Nur wenn wirklich ein Infektionsverdacht bestehe, würden Pädiater den Kindern diesen Test zumuten. Angesichts der geringen Infektionsrate bei den Jüngsten sei es ohnehin unsinnig, sie massenhaft zu testen: „Das ist wie die Suche nach der Stecknadel im Heuhaufen.“

Eltern und Erzieher verdächtigen sich gegenseitig

Die Situation in Familien und bei pädagogischen Fachkräften sei alles andere als entspannt, so erlebt es der Facharzt. „Die Eltern haben den Verdacht, die Erzieher wollten nicht arbeiten, wenn sie verschnupfte Kinder heimschicken - und die Erzieher haben den Verdacht, die Eltern bringen ihnen kranke Kinder.“

Meine Kinder haben immer von September bis März eine Rotznase.
Alexandra (42) / Mutter von drei Kindern

Die dreifache Mutter Alexandra erlebt ihre Kita bei Karlsruhe als „kulant“. „Aber die Schule unserer großen Tochter ist ganz streng“, erzählt die 42-Jährige. „Die Kinder dürfen erst in den Unterricht, wenn jegliches Erkältungssymptom komplett abgeklungen ist.“

Eigentlich will die Mutter im kommenden Winter in den Job zurückkehren, zumindest in Teilzeit. Das bereitet ihr nun Kopfzerbrechen. „Meine Kinder haben immer von September bis März eine Rotznase“, sagt Alexandra halb lachend, halb verzweifelt. „Und März ist noch eine optimistische Annahme!“

Eisenmann und Lucha versprechen neue Richtlinien

In den Corona-Hygienehinweisen für Schulen heißt es aktuell: „Bei Krankheitszeichen (z.B. Fieber, trockener Husten, Atemprobleme, Verlust von Geschmacks-/Geruchssinn, Halsschmerzen) in jedem Fall zu Hause bleiben und gegebenenfalls medizinische Beratung/Behandlung in Anspruch nehmen.“

Und in den Schutzhinweisen für Kindertagesstätten steht: „Kinder dürfen nur betreut werden, wenn diese keine typischen Krankheitssymptome einer Coronavirus-Infektion aufweisen (Symptome eines Atemwegsinfekts, erhöhte Temperatur oder Störungen des Geruchs- und Geschmackssinns).“

Dass die Minister Eisenmann und Lucha nun mit dem Landesgesundheitsamt eine ausführlichere Entscheidungshilfe austüfteln wollen, begrüßen Ärzte und Kita-Verantwortliche.

Grün-gelber Schleim weist auf Infekt hin – oder auf eine Allergie

„Wir warten auf genauere Bestimmungen von oben“, sagt Annie Schalck, Leiterin der Karlsruher AWO-Kita „Pamina“. „Stress gibt es mit den Eltern bisher aber nicht“, betont sie. „Wir kennen unsere Kinder, manche haben einfach immer eine Rotznase. Bei nur leichtem Schnupfen schicken wir niemanden heim.“

Ein „grün-gelblicher“ Schleim jedoch weise „definitiv“ auf einen Infekt hin, wenn auch nicht unbedingt auf Corona – da sei eine Auszeit nötig. Wobei es auch Ausnahmen gibt: Kinder mit Allergien wie Heuschnupfen haben mitunter ähnlich auffälligen Schleim.

Mit einer Bescheinigung vom Arzt dürfen sie in die Kita, wie Sabine Diefenbach vom Landesvorstand des Deutschen Kita-Verbands betont: „Aber kranke Kinder müssen ausheilen dürfen. Manche Träger sind getrieben vom Druck der Eltern.“

Das Familienleben passt sich immer mehr dem Arbeitsleben an.
Till Reckert / Landessprecher des Berufsverbandes der Kinder- und Jugendärzte

Konflikte werde es auch mit neuen Richtlinien noch geben, ist sich Kinder- und Jugendarzt Reckert sicher. Wo endet eine leichte Erkältung? Wo beginnt die Krankheit? Welches Symptom zeugt doch von einer Corona-Infektion? „Die Übergänge sind immer fließend“, sagt der Mediziner.

Dass junge berufstätige Eltern so gestresst sind, ist für ihn auch die Folge einer bedenklichen gesellschaftlichen Entwicklung: „Das Familienleben passt sich immer mehr dem Arbeitsleben an, aber das Arbeitsleben sollte familienfreundlicher werden.“ Er habe schon vor der Corona-Pandemie manchen „Traum von der doppelten Erwerbstätigkeit“ in Erkältungswintern „zerschellen sehen“.

Kind will nicht mehr husten – aus Angst

Und die kleinen Menschen spürten die ständige Angst vor der Betreuungslücke. „Ich hatte ein Kind hier in der Praxis, das gar nicht mehr husten will - weil es Angst hat, dann nicht zur Schule zu dürfen“, erzählt Reckert.

Der zweijährige Sohn von Stefanie aus Karlsruhe hat eines auch schon abgespeichert: „Kita nur ohne Nase“, plappert er. Und dann ruft er: „Taschentuch, Taschentuch.“

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