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Meinung

von Klaus Michael Baur

Kommentar zum Jahreswechsel

Die Sehnsucht nach einer besseren Welt ist unkaputtbar

Zwar wird auch dem zweiten Pandemiejahr noch mindestens eine Stressphase folgen – doch die Zuversicht bleibt auch im Jahr 2022 die Königsdisziplin, kommentiert BNN-Chefredakteur und Verleger Klaus Michael Baur.

Neujahr 2022
Die Sehnsucht nach einer besseren Welt unkaputtbar - ein Kommentar zum Jahreswechsel von BNN-Chefredakteur Klaus Michael Baur. Foto: Alexander Limbach/imago images

Tröstende Aphorismen haben Konjunktur am Ende eines problematischen Jahres. Manche könnte man golden einrahmen. „Eine schwere Zeit ist wie ein dunkles Tor. Trittst du hindurch, trittst du gestärkt hervor“, lehrt Hugo von Hofmannsthal, der Denker der einstigen Wiener Moderne. Doch schöne Lyrik verschenkt keine Erfolgsgarantie.

Dem zweiten Pandemie-Jahr wird mindestens noch eine Stressphase folgen. Omikron, Zerreißproben um die Impfpflicht, Härtetests auf den Intensivstationen: So lauten die Fakten zum Jahreswechsel.

Ob die Pandemie tatsächlich in den endemischen Status mündet, ist fraglich. Noch bleibt die Lage hie und da brisant. Gereizte Aufmärsche, Gewalt gegen Polizei – Sittengemälde einer Republik, in der Corona-Restriktionen Menschen in Wallung bringen.

Letztlich ist es nur eine Minderheit, die „Demokratieabbau“ geißelt und demokratische Fingerzeige selbst missachtet. Wie Mehrheitsmeinungen, Mehrheitswillen: Über 75 Prozent haben bei der Bundestagswahl ihr Kreuzchen Parteien gegeben, die Corona ernst nehmen und sich eindeutig für den Kampf gegen das Virus einsetzen. Das ist mit Einschränkungen verbunden.

Auch eine Impfpflicht wäre nicht der Untergang eines freiheitlich orientierten Landes

Mehr als 70 Prozent der Deutschen sind mindestens zweitgeimpft, wachsende Stimmen befürworten die Impfpflicht. Nun zählte eine solche Pflicht – ungeachtet der Fragen, ob sie politisch und rechtlich überhaupt den Lackmustest besteht, wie ihre Umsetzung aussieht und wie effizient angedrohte Bußgelder sind – nicht zu den beglückenden Instrumenten eines freiheitlich orientierten Landes.

Dessen Untergang würde sie als temporäres Mittel, als Ultima Ratio, aber nicht bedeuten – auch nicht vor dem Handicap des großen politischen Fehlers, sie zunächst apodiktisch ausgeschlossen zu haben.

Es ist ein Irrglaube, dass Demokratie nur aus der liberalen Lebensführung Einzelner besteht, die eine generelle Wahlfreiheit in der Krise, in einer Ausnahmesituation, für sich beansprucht. Es geht um den zentralen Präventionsgedanken, um Solidarität, und hier ist der Staat auf Regulative angewiesen. Und insgesamt sollte es als große Errungenschaft betrachtet werden, die Impfspritze in Ärztehand zu wissen.

„Wir müssen uns auch nach der Pandemie noch in die Augen schauen können.“ Recht hat der Bundespräsident. Schranke herunter für stigmatisierende Untertöne, für schroffes Ausgrenzen, für Besserwisserei aus dem Web.

Zu viele Freundschaften sind in die Brüche gegangen. Gute Freunde kann niemand trennen, das brachte den Deutschen mal der Fußball-Kaiser bei. Ein Virus schon.

Bei der Ampel-Koalition werden Soll-Bruchstellen erkennbar

Zum Corona-Jahr und einer streitbaren Republik passt das bunte Votum der Bundestagswahl. Die Ampel als Regierungsgebilde ist das beste Signum eines Zeitgeistes, der zwischen Aufbruch und Beharren schwankt. G

roße Parteien gibt es nicht mehr, große Aufgaben bleiben. Die nach der Flutkatastrophe noch wichtigeren Klimaaspekte, Staatsfinanzen, soziale Gerechtigkeit, Digitalisierung, Wirtschaftsförderung, Corona-Maßnahmen, nachhaltige Außenpolitik – das klingt nach einem Epos und keiner Kurzgeschichte.

Zum Prolog stimmte noch die Satzmelodie. Jetzt folgen Soll-Bruchstellen. Rot und Grün sind sich nicht immer grün, wie Nord Stream 2 zeigt. Die FDP akzeptiert dauerhaft weder die Rolle des Adjutanten noch des Geistes, der stets verneint. Für Olaf Scholz, den neuen Kanzler, wird es darum gehen, Profil zu gewinnen. Im weltpolitischen Geschehen warten Wegscheiden.

Mit Joe Biden sitzt in den Staaten immerhin ein Präsident, der aus Wahrheiten keine Fake News macht. Das allein ist, trotz des Afghanistan-Desasters, eine Vitaminpille für den transatlantischen Spirit.

Ein Volk voller Visionen ist gesund

So beginnt 2022 mit Perspektiven. Die Königsdisziplin heißt Zuversicht. Die Wirtschaft sieht trotz erheblicher Opfer nicht schwarz, die Kultur hält am Prinzip Hoffnung fest. „Die Sehnsucht nach Kunst ist unkaputtbar“, verkündet der Hamburger Thalia-Intendant für die gesamte Theater-Gilde.

Den alten Schmidt-Satz, wer Visionen hat, sollte zum Arzt gehen, gilt es zu widerlegen. Ein Volk voller Visionen ist gesund. Der Wunsch nach Normalität und Lebensfreude groß. Und ja: Die Sehnsucht nach einer besseren Welt unkaputtbar.

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