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Fest der Sinne in Karlsruhe

Blindenfußballer des MTV Stuttgart: „Ich würde mir mehr Wertschätzung wünschen“

Mit 20 Jahren verlor Mulgheta Russom nach einem Unfall sein Augenlicht. Heute spielt er Blindenfußball in der Bundesliga und in der Nationalmannschaft. Am Samstag findet der Auftaktspieltag der Blindenfußball-Bundesliga beim Karlsruher Fest der Sinne statt.

Mulgheta Russom spielt Blindenfußball
Ballgefühl statt Sehkraft: Seit er nach einem Autounfall sein Augenlicht verlor, spielt Mulgheta Russom Blindenfußball. Foto: Patricia Leßnerkraus

Mulgheta Russom hat nur noch vage Erinnerungen an die Nacht, die sein Leben verändert. Es ist der 3. Oktober 1998. Der damals 20-Jährige hat die ganze Nacht lang mit seinen Freunden in Stuttgart gefeiert.

In den frühen Morgenstunden ist er mit dem Auto auf dem Heimweg in seinen Wohnort bei Tübingen, als es plötzlich knallt. Russom ist aus unerfindlichen Gründen von der Straße abgekommen und gegen einen Baum geprallt.

Was danach passiert, weiß er nur aus Erzählungen. Passanten ziehen ihn aus dem brennenden Wagen. Er kommt nach Tübingen in ein Krankenhaus. 14 Stunden lang wird er notoperiert. Dreimal versuchen die Ärzte, ihn wiederzubeleben. „Sie hatten mich eigentlich schon aufgegeben.“

Der gebürtige Eritreer liegt drei Monate lang im künstlichen Koma. Als er aufwacht, erwischt ihn eine Infektion mit hohem Fieber. Wenige Tage später ist Russom blind. „Ich habe mir die Frage gestellt: Warum ich?“, erinnert sich der heute 43-Jährige: „Aber Aufgeben war keine Option.“

Mulgheta Russom spielte vor Autounfall Fußball

Vor seinem Unfall boxt er und spielt in der Landesliga Fußball. Noch in der Reha-Klinik fängt er wieder an, Sport zu treiben. Er geht joggen, schwimmen, macht Krafttraining. Später versucht er sich im Wasserski und im Speerwerfen, wagt einen Tandem-Fallschirmsprung. „Ich bin Sportler durch und durch.“

Nur Fußball Spielen, das geht ohne Augenlicht nicht mehr, glaubt Russom.

Bis er 2006 einen Anruf erhält. In Stuttgart gründet sich ein Blindenfußball-Team. Ob er es nicht mal probieren wolle? Russom geht zum Training. Und merkt: „Das liegt mir.“ Die Bewegungsabläufe, die Ballführung: All das beherrscht er noch aus seiner Zeit als sehender Fußballer. Seitdem ist er Kapitän und Abwehrchef in der Bundesliga-Mannschaft des MTV Stuttgart. Seit 2007 außerdem deutscher Blindenfußball-Nationalspieler.

Beim Blindenfußball komme es vor allem auf die Technik und das Raumgefühl an, sagt Russom. Und auf Vertrauen. „Man muss sich auf die Mitspieler verlassen können“, sagt der 43-Jährige, der als Fitnesstrainer arbeitet. „Die Kommunikation muss stimmen.“

Das Spielfeld beim Blindenfußball hat die Größe eines Handballfeldes, 20 mal 40 Meter. Es ist durch Banden abgegrenzt. Jede Mannschaft besteht aus einem sehenden Torwart und vier blinden Feldspielern.

Der Ball ist kleiner und schwerer als ein klassischer Fußball. Er rasselt, damit die Spieler ihn hören können. Sehende Guides geben vom Spielfeldrand und hinter den Toren Kommandos. Um dem Gegner zu signalisieren, wenn sie sich nähern, rufen die Spieler immer wieder „Voy“. Das ist Spanisch und heißt „Ich komme“.

Gespielt werden zwei Halbzeiten à 20 Minuten gestoppte Zeit. In die Nationalmannschaft werden nur Spieler berufen, die völlig blind sind. Für die Bundesliga gelten andere Bedingungen.

Dort dürfen auch Spieler mit einer kleinen Restsehfähigkeit antreten. Damit alle gleich wenig sehen, kleben die Spieler ihre Augen mit Eyepads ab und verbinden sie zusätzlich. Einige tragen außerdem eine Dunkelbrille und einen gepolsterten Kopfschutz.

Blindenfußballer spielen am Samstag beim Karlsruher Fest der Sinne

Geld verdienen die Blindenfußballer mit ihrem Sport nicht. Weder in der Bundesliga noch in der Nationalmannschaft. „Dabei ist das ein harter Sport“, sagt Russom: „Ich würde mir mehr Wertschätzung wünschen.“

Am Samstag, 7. Mai, steht er mit dem MTV Stuttgart wieder auf dem Platz. Von 9 bis 17 Uhr findet auf dem Karlsruher Schlossplatz der Auftaktspieltag der deutschen Blindenfußball-Bundesliga statt. Die Stuttgarter treten am Samstag gegen den amtierenden Meister St. Pauli, die Sportfreunde Blau-Gelb Blista Marburg, Borussia Dortmund, den FC Schalke 04, Hertha BSC, den BSV Wien und die neue Spielgemeinschaft Fortuna Düsseldorf/PSV Köln an.

Voriges Jahr haben die Stuttgarter die Meisterschaft knapp verpasst. Am letzten Spieltag verloren sie in Bonn mit 1:0 gegen den FC St. Pauli. Die Vorbereitung auf die neue Runde sei durchwachsen verlaufen, sagt Russom. Wegen Corona und Spielermangel habe der MTV nur wenig trainieren können. Trotzdem ist er optimistisch für die kommende Saison: „Wir wollen wieder oben mitspielen.“ Ans Aufhören denkt der 43-Jährige noch lange nicht.

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