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Initiative KeinerBleibtAllein

Gegen die Einsamkeit: Warum ein Karlsruher mit Unbekannten Weihnachten feiert

Einsamkeit schmerzt an Weihnachten noch mehr als sonst. Jahr für Jahr wissen in Deutschland Tausende Menschen nicht, mit wem sie feiern sollen. Doch jedes Jahr öffnen private Gastgeber ihre Türen. Mit dabei ist auch ein Karlsruher.

René Reichelt steht am Marktplatz. René Reichelt ist gespannt, mit wem er in diesem Jahr Weihnachten feiert. Er hofft, dass er wieder Gastgeber für einen oder mehrere Menschen sein kann, die sonst an den Festtagen niemanden hätten, zu dem sie gehen können. (Zu dpa: ««Baue einen größeren Tisch» - Weihnachten feiern mit Unbekannten») +++ dpa-Bildfunk +++
René Reichelt ist gespannt, mit wem er in diesem Jahr Weihnachten feiert. Er hofft, dass er wieder Gastgeber für einen oder mehrere Menschen sein kann, die sonst an den Festtagen niemanden hätten, zu dem sie gehen können. Foto: Uli Deck picture alliance/dpa

René Reichelt ist gespannt, mit wem er in diesem Jahr Weihnachten feiert. Der 41-Jährige hofft, dass er wieder Gastgeber für einen oder mehrere Menschen sein kann, die sonst an den Festtagen niemanden hätten, zu dem sie gehen können. „Kochen muss ich sowieso – ob ich das jetzt für eine Person mache oder für zehn, macht am Ende keinen Unterschied“, sagt der Karlsruher.

Seit 2018 beteiligt sich Reichelt an der Initiative KeinerBleibtAllein, die der Einsamkeit an Weihnachten Gastfreundschaft und Nächstenliebe entgegensetzt. „Über das Jahr kann man sich oft noch gut von der eigenen Einsamkeit ablenken. Über Weihnachten wird es akut“, sagt Heike Paulus aus dem Organisationsteam.

Die Initiative ist auf Twitter, Instagram und Facebook aktiv, die Berlinerin moderiert auf Facebook eine bundesweite Gruppe. Darin finden Gäste und Gastgeber zusammen, die sich sonst höchstwahrscheinlich nie über den Weg gelaufen wären.

„Einsamkeit an Weihnachten ist kein Problem der Älteren, das zieht sich durch jedes Alter und alle Gesellschaftsschichten“, sagt die 34-jährige Paulus. Es gebe aber soziale Gefüge, die häufiger seien als andere. „Unter den Weihnachtsgästen sind viele Arbeitsnomaden, die kein festes Netzwerk aufbauen konnten. Viele Menschen, die mitmachen, haben finanzielle Engpässe und sind sozial benachteiligt. Wir haben viele, die schon sehr lange einsam sind.“ Die Initiative solle ein Türöffner sein, sagt Paulus. „Wieder Kontakt finden, sich trauen und merken: Kontakt ist nichts Schlimmes.“

Experten gehen davon aus, dass in Deutschland etwa zehn bis 20 Prozent der Menschen von chronischer Einsamkeit betroffen sind. Einsamkeitsforscherin Susanne Bücker schreibt in einer Stellungnahme für den Bundestag aus diesem Jahr, Einsamkeit hänge zwar mit sozialer Isolation zusammen, sei aber nicht damit identisch. „Nicht immer fühlen sich Menschen einsam, wenn sie alleine sind. Umgekehrt können sich Menschen auch dann einsam fühlen, wenn sie objektiv nicht alleine sind.“

Viele Gäste des Karlsruhers haben Schicksalsschläge erlebt

Gastgeber Reichelt verbringt die Festtage schon länger nicht mehr mit seiner Familie. „Es hat jeder seine eigene Art, Weihnachten zu feiern, das war einfach nie kompatibel.“ Als einsam empfindet er sich nicht. „Ich glaube, ich hätte wahrscheinlich eher alleine gefeiert als irgendwohin als Gast zu gehen. Man will ja auch niemandem zur Last fallen, der Gedanke ist so im Kopf dabei. Ich habe finanziell keine Probleme und denke mir: Wenn du genug hast, baue keine größere Mauer, sondern einen größeren Tisch.“

Seine Gäste seien vor allem Menschen mit Schicksalsschlägen gewesen, etwa mit Todesfällen von Partnern oder nahen Verwandten. Eine Frau sei eine Stunde Zug gefahren, um Weihnachten nicht allein feiern zu müssen. Reichelt erzählt, es sei einfacher und lockerer mit mehreren Gästen gewesen, zum Teil seien auch seine Nachbarn dazugekommen. „Es war schnell eine sehr ausgelassene Stimmung.“ Aber auch die Treffen mit nur einem anderen hätten gut geklappt.

Nervös sei er davor nie gewesen. „Die einzigen Erwartungen, die ich habe, sind an mich selbst. Und ich kann gut genug kochen, um zu wissen, dass das Essen klappt – der Rest ergibt sich.“

Paulus von KeinerBleibtAllein sagt: „Meine Erfahrung ist: Wenn nichts erwartet wurde, sagen die allermeisten hinterher: „Es war wahnsinnig gut. Aber natürlich gibt es auch Enttäuschungen.“ Manche treffen sich im Jahr darauf wieder, sind Freunde geworden, sogar eine Ehe ergab sich, wie sie erzählt. „Wir sind keine Single-Börse, das ist mir ganz wichtig, aber passieren kann das natürlich, dass zwei sich finden.“

Kontakte entstehen über die Initiatoren oder auch die Facebook-Gruppe

Oft vermitteln die Initiatoren die Weihnachtskontakte und machen die Suchenden aufeinander aufmerksam. Teilweise verabreden sich Teilnehmerinnen und Teilnehmer auf eigene Faust, vor allem in der Facebook-Gruppe. Nicht jede und jeder findet jemanden, weder Gäste noch Gastgeber. „Wir versuchen unser Bestes, aber irgendwann sind unsere Kapazitäten auch erschöpft“, sagt Paulus.

Bei der Telefonseelsorge tauchte Einsamkeit im Jahr 2020 unter den benannten Themen am häufigsten auf. „Traditionell ist Weihnachten ja ein Familienfest, ein Fest der Gemeinschaft. Wenn sich da jemand nicht zugehörig fühlt, wenn es Brüche gab, dann wird das ganz schmerzhaft deutlich in den Weihnachtstagen“, sagt Martina Rudolph-Zeller, Leiterin der Telefonseelsorge Stuttgart. „Von Älteren hören wir zum Beispiel: „Ich habe hier niemanden mehr, Weihnachten war früher viel schöner“.“

Und Jüngere litten zum Teil unter Loyalitätskonflikten – sollen sie mit der getrennt lebenden Mutter oder mit dem Vater feiern? Um einem einsamen Menschen an Weihnachten eine Freude zu machen, reiche schon ein gemeinsamer Spaziergang, sagt Rudolph-Zeller – es müsse gar keine Einladung nach Hause sein.

Es braucht Mut auf beiden Seiten und auch ein bisschen Abenteuerlust.
Heike Paulus, Organisationsteam Initiative KeinerBleibtAllein

Jemanden an Weihnachten nach Hause einladen, die oder den man gar nicht kennt – ein mutiger Schritt. „Es braucht Mut auf beiden Seiten und auch ein bisschen Abenteuerlust“, sagt Paulus. „Das Internet kann auch ein dunkler Ort sein – deshalb empfehlen wir, vorher zu telefonieren, sich vielleicht sogar schonmal zu treffen. Man kann dann seine Realitäten abgleichen.“

Präsenztreffen sind wegen Corona schwierig

Gastgeber Reichelt ist sich wegen Corona nicht sicher, ob sich in diesem Jahr jemand bei ihm meldet. 2020 pausierte die Initiative coronabedingt, in diesem Jahr ist die Lage unsicher. Treffen sollten sich nur Geimpfte und Genesene, sagt Paulus. „Stand jetzt vermitteln wir.“

Plan B für das zweite Weihnachten in Pandemie-Zeiten sind Online-Treffen. Reichelt sagt allerdings: „Da wäre ich nicht dabei – es ist schwierig, online für andere Menschen zu kochen.“

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